Menschen | Tun | Dinge

Menschen | Tun | Dinge Einleitung

Menschen Tun Dinge —
Anmerkungen zu
Wert und Wandel
von Objekten

Menschen | Tun | Dinge? Ja, wir geben zu: ein Titel, der stutzig macht. Doch bei näherer Betrachtung wird ersichtlich, dass eben diese drei Worte als Stellvertreter für den Begriff ‚Kultur‘ stehen können. Die Kultur einer Gesellschaft wird durch die Handlungen von Menschen – deren Tun – geformt. Und Dinge, die Menschen herstellen, gebrauchen oder denen sie besondere Bedeutung zumessen, gibt und gab es in allen Kulturen und zu allen Zeiten. Diese Dinge sind mit zahlreichen Bedeutungen verknüpft. Forscher versuchen sie mit wissenschaftlichen Methoden zu entschlüsseln. Manche Dinge sind Fundstücke aus längst vergangenen Epochen und uns daher fremd. Andere stammen zwar aus der Gegenwart, aber sie entsprechen nicht unseren europäisch geprägten Normen und Vorstellungen – ihr Sinn oder Nutzen bleibt uns, wenigstens auf den ersten Blick, ebenfalls verborgen.

Aber jedes Ding ist ein wertvolles Zeugnis! Die Kulturwissenschaft weiß dies schon lange. Es ist jedoch nicht leicht, die mit den Objekten verbundenen Rätsel zu entziffern. Oft kommt es zu Missverständnissen. So werden den Dingen bestimmte ‚hauptsächliche‘ Funktionen oder Bedeutungen zugewiesen. Aber können wir sicher sein, dass diese Zuweisung dem Gegenstand wirklich gerecht wird? Dinge, die als Repräsentanten einer Kultur gelten könnten, bedürfen daher besonders sorgfältiger und differenzierter Betrachtung. In den letzten Jahren haben Fachleute immer neue Modelle und Konzepte entwickelt, um der Aufgabe einer angemessenen Beschreibung von Dingen gerecht zu werden. Das Materielle als Zeugnis des kulturellen Handelns hat sich dabei als vielgestaltig und wandelbar erwiesen. Viele Versuche, eine bestimmte Bedeutung eines Gegenstands oder einer Substanz als ‚universal‘ herauszustellen, erwiesen sich als unhaltbar. Die materielle Seite der Kultur ist nicht weniger komplex als jedes andere Feld, wie etwa Wort und Schrift. Die Verpflichtung, sich trotz dieser Herausforderung den Dingen zuzuwenden, beruht auch auf der Einsicht, dass sehr viele der in dieser Ausstellung betrachteten Kulturen keine anderen Dokumente hervorgebracht haben und hervorbringen, als eben die materiellen Objekte.

Menschen und Dinge beeinflussen sich wechselseitig. Man kann diese wechselseitigen Beziehungen als ein Netzwerk beschreiben, indem die Menschen als Akteure, die Dinge als ‚Aktanten‘ Knoten bilden, die durch Beziehungslinien miteinander verbunden sind. Die Metapher des Netzes ist hilfreich, um solche intensiven Wechselwirkungen zu beschreiben. Dieses Bild macht es zudem einfacher, die einseitige Fokussierung des Menschen zu überwinden, da Menschen und Dingen in einem solchen Netzwerk auf gleicher Augenhöhe einander gegenübertreten. Es handelt sich hier um das Modell eines symmetrischen Verhältnisses. Die Möglichkeiten der Aktanten, das aktuelle Handeln eines Menschen oder das Verhalten eines Objekts zu beeinflussen, sind nicht geringer als die der Akteure, die sich Objekten gegenübersehen.

Die Sphäre, in der Menschen und Dinge aufeinandertreffen, ist die Lebenswelt einer Gesellschaft. Sie besteht aus dem Zusammenspiel der Nutzung von Dingen und den damit verbundenen Handlungen der Menschen. Solche Verflechtungen von Mensch und Dingen kann man sich wie ein flexibles Gewebe vorstellen. Wenn es gut funktioniert, bildet es eine stabile Grundlage für den Fortbestand der betreffenden Gesellschaft. Wenn aber etwas nicht funktioniert, wenn Dinge fehlen, Entwicklungen stocken oder Bedeutungen verloren gehen, kann es zum Stillstand oder zum Untergang der Kultur kommen. Selbst das kleinste Objekt kann große Bedeutung für die Balance des Gesamtgefüges haben. Man denke nur an die verhängnisvollen Folgen eines nicht funktionierenden Bauteils in einem Flugzeug. Die Komplexität solcher Wirkungs- und Bedeutungszusammenhänge zwischen Dingen, aber auch zwischen Mensch und Gerät wird häufig erst dann deutlich, wenn ein Objekt nicht wie vorgesehen funktioniert. Dann ergibt sich ein Stillstand oder es kommt zu fatalen Wirkungen, wenn nicht zu Katastrophen. ‚Verflechtungen‘ von Dingen und Menschen sind ein sehr gutes Sprachbild, um das beschriebene symmetrische Verhältnis deutlich zu machen. Mehr noch als der Begriff des Netzwerkes ist die Metapher der Verflechtung zudem geeignet, um das ‚aufeinander angewiesen sein‘ offen zu legen: Netzwerke sind elastisch, der Ausfall eines Knotens muss zunächst keine Konsequenzen haben. Verflechtungen verweisen auf die Bedeutung jedes einzelnen Fadens, im Feld der materiellen Kultur mithin auf die Relevanz jedes Objektes.

Die Form der Dinge in einer Kultur ist abhängig von deren Nutzung, sowie von den bei der Herstellung zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten. Heute erscheint uns selbst das Unmögliche technisch realisierbar. Doch dem war nicht immer so. Techniken mussten sich erst entwickeln, Materialien zur Umsetzung gefunden oder beschafft werden. Hatte sich ein gewisser technischer Standard erst einmal durchgesetzt, dann galten Dinge, die ihm nicht entsprachen oder nach altem Muster hergestellt waren, schnell als unmodern oder wertlos. Techniken der Herstellung von Dingen sind ein Beispiel für das Ineinandergreifen der repräsentativen wie auch der normierenden Funktion. Erst wenn Techniken verfügbar sind, werden bestimmte Objekte hergestellt; wenn aber einmal ein bestimmter technischer Standard erreicht ist, so gelten all jene Dinge, die ihm nicht entsprechen, als weniger wertvoll oder gar unangemessen (Produktion und Gebrauch). Von ähnlich großer Bedeutung ist die Beobachtung der Veränderung und des Wandels von Dingen. Gerade weil materielle Dinge keine arbiträren Phänomene sind, wie zum Beispiel Worte und Sätze, können auch geringe Veränderungen die Entwicklung eines neuen Stils, einer Innovation oder einer neuen Bewertung anzeigen. Sowohl die Weitergabe einer tradierten Form und Gebrauchsweise als auch ihre graduelle Veränderung sind Indizien für Kulturwandel, auch wenn sie möglicherweise unterhalb der Schwelle eines bewussten Bruchs mit den Traditionen einer Gesellschaft liegen (Tradition und Wandel). Ein spezifischer Fall dieser Veränderung kann durch eine veränderte Beziehung zur Umwelt ausgelöst werden: Land wird zu einer knappen Ressource, urbane Lebensformen gewinnen an Bedeutung. Lebenswelten können sich ändern, wenn Umweltbedingungen es zulassen oder gar verlangen. Urbanisierung ist eine mögliche Folge der Veränderung von solchen Rahmenbedingungen, andere Nutzungsformen von Land wären eine andere Option (Landschaft und Urbanisierung).

Materielle Kultur ist aber nicht nur Ausdruck oder Anzeichen von Veränderung. Sie kann auch ein Instrument der Kontrolle und der Durchsetzung von Normen sein. Materielle Objekte, die eine solche Normierung lebhaft bezeugen, sind Siegel und Münzen sowie alle anderen Objekte, die im Kontext des Handels von Bedeutung sind. Gleichförmigkeit und Vorgabe von Form und Gewicht verweisen auf eine kontrollierende Instanz, also auf Personen, denen die Überwachung der Handelsnormen ein Anliegen ist (Wirtschaft und Verwaltung).

In jedem Themenbereich der vorliegenden Ausstellung „Menschen | Tun | Dinge“ wird eine spezifische Wechselwirkung zwischen Menschen und Dingen beschrieben. In allen Fällen geht es um symmetrische Beziehungen: Die Dinge treten als wesentliche Faktoren auf, die das zukünftige Handeln der Menschen in diesen Gesellschaften begrenzen oder ermöglichen, so wie auch die Menschen als Träger einer Kultur die gezeigten Dinge hervorbringen, sie verändern oder durch spezifische Bedeutungen ihnen besondere Kontexte zuweisen. In dieser Weise zeigt die Präsentation eine Vielzahl von Interaktionen, die durch die Arbeit der Archäologen und Ethnologen rekonstruiert wurde und damit grundlegende Einsichten in die jeweiligen Kulturen ermöglicht.

Hans Peter Hahn

 

Eine Ausstellung von Annabel Bokern | Hans Peter Hahn | Fleur Kemmers und Doktorandinnen und Doktoranden des Graduiertenkollegs Wert und Äquivalent.

3D-Scans und Modelle

Nico Serba

Im Werkzeugmaschinenlabor des Fachbereich 2- Informatik und Ingenieurwissenschaften- beschäftigt sich Nico Serba mit der Datenrückführung und Datenaufbereitung durch handgeführte 3D-Laserscanner, wie zum Beispiel im Rahmen dieses interdisziplinären Kooperationsprojekt mit der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Frankfurt University of Applied Sciences, FRA-UAS

Kurationsassistenz

André Luiz Ruivo Ferreira Burmann studiert Vor- und Frühgeschichte mit Schwerpunkt Vorgeschichte Afrikas und schreibt zurzeit an seiner Magisterarbeit über die Fundkontexte von Terrakotta-Figuren aus der Nok-Kultur Zentralnigerias (1500 v. Chr. - um Christi Geburt). Seine Nebenfächer Archäologie und Geschichte der römischen Provinzen sowie Romanistik mit Schwerpunkt Portugiesische Philologie sind abgeschlossen. Er interessiert sich neben der Prähistorie insbesondere für das Ausstellungswesen und die Museumslandschaft sowie die Entwicklungszusammenarbeit und hat in diesen Bereichen bereits verschiedene Erfahrungen in Nebenjobs, Praktika und ehrenamtlichen Aktivitäten gesammelt. Für Menschen | Tun | Dinge ist er als Assistent des Ausstellungskuratoriums im Graduiertenkolleg "Wert und Äquivalent" an der Goethe-Universität in Frankfurt tätig.

Filmemacher

Daniel Hoffmann ist Kameramann, Filmemacher und nebenberuflich Lieblingsmensch. Er ist Teil von Ambitious Films in Berlin, wo er Musikvideos angesehener Künstler dreht. Er ist nicht nur ein Profi im Studio hinter dem Bildschirm, sondern auch überall sonst (in diesem in Fall Nordghana) hinter der Kamera.

Gestaltungskonzept

Martina Miocevic | Mathilda Mutant

Mainz


Unter dem Künstlernamen »Mathilda Mutant« bekannt, von Freunden »Mati« genannt und geboren als »Martina Miocevic«. Seit dem Masterabschluss 2012 an der Fachhochschule Mainz in Kommunikationsdesign, arbeitet sie als selbstständige Designerin und Illustratorin in Mainz und erfreut sich jeden Tag an schönen Aufgaben, die sie und die Leute um sie herum glücklich machen.
Durch das Erforschen von unbekannten Dingen funktioniert der Kopf eines Gestalters ihrer Meinung nach anders. Denn wir nehmen nicht nur Informationen auf und speichern sie ab, nein wir verarbeiten sie weiter und haben automatisch Bilder und Ideen in unseren Köpfen, die wir im besten Fall zu Papier bringen und dadurch wieder Neues erschaffen …
Menschen | Tun | Dinge Konzeption

Annabel Bokern, Hans Peter Hahn und Fleur Kemmers

Was ist ein Graduiertenkolleg?

Ein Graduiertenkolleg nimmt sich zur Aufgabe unter einem gemeinsamen thematischen Dach junge Forscher auf dem Weg zur Promotion zu unterstützen. Der Clou ist es dabei, ein Thema zu finden, das Beteiligte aus ganz unterschiedlichen Fächern zusammenbringt und das aus der fachübergreifenden Zusammenarbeit auch einen Mehrwert für jeden einzelnen Doktoranden hervorbringt. Im Frankfurter Kolleg haben wir uns für die Frage nach Wertkonzepten in Hinblick auf materielle Dinge und nach den Äquivalenzbeziehungen zwischen materiellen Gütern entschlossen.

 

Was verbindet das Ausstellungsthema mit dem Kolleg?

Sowohl „Wert“ als auch „Äquivalent“ drücken sich in Handlungen, in Praktiken, in Routinen aus, die in verschiedenen Gesellschaften und Kulturen anerkannt waren und dazu dienten, solche Wertschätzungen auszudrücken oder Äquivalenzbeziehungen herzustellen. Diese Behauptung ist das Leitmotiv zur Ausstellung „Menschen | Tun | Dinge“, die in erster Linie die Doktorarbeiten der im Graduiertenkolleg beteiligten Nachwuchswissenschaftler vorstellt.

 

Wie ist die Ausstellung konzipiert?

Die Ausstellung gliedert sich in eine Ausstellung im Foyer des IG-Farben-Hauses der Goethe-Universität, einem Begleitbuch, und diesem Internetauftritt. Letzterer bietet dem Besucher die Möglichkeit vor oder nach dem Besuch der Vor-Ort-Ausstellung anhand von 3D-Rekonstruktionen, Visualisierungen und kleinen Spielen in die Tiefe zu gehen. Für diese dreifache Gliederung haben alle Beteiligten sich aneignen müssen, wie man die eigene Forschungsarbeit in unterschiedlichen Medien und für unterschiedliche Publikumsbereiche darstellen kann. Es war eine Herausforderung , die komplexen Themen knapp und in leicht verständlichen Begriffen inhaltsgetreu darzustellen.

Die Vermittlung der eigenen Forschungsergebnisse an unterschiedliche Zielgruppen wird immer wichtiger. Dies gilt nicht nur für das Museum oder andere kulturelle Einrichtungen, sondern zunehmend auch für die Universitäten und andere Forschungseinrichtungen. Wer mit Drittmitteln von externen Geldgebern wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) forschen möchte, verpflichtet sich, die Öffentlichkeit daran teilhaben zu lassen.

 

Warum haben wir eine Ausstellung im Studienprogramm der Doktoranden?

Die Dissertation ist eine Grundvoraussetzung, aber kein Garant für den erfolgreichen Eintritt in eine wissenschaftliche Laufbahn. Promovierende brauchen zusätzliche Qualifikationen, die über ihre wissenschaftliche Qualifikation hinausgehen. Wenn man später in einer wissenschaftlichen Position oder einer wissenschaftsnahen Position arbeiten möchte, hat man nicht nur mit Forschung sondern mit einer ganzen Bandbreite an Aufgaben zu tun. Man kann nicht früh genug anfangen sich dafür zu qualifizieren. In der Archäologie und Ethnologie sind Museen wichtige potentielle zukünftige Arbeitsgeber für Absolventen. Die Frankfurter Doktoranden haben sich, durch ihr Engagement und Mitarbeit an der Ausstellung Menschen Tun Dinge, von der Konzeptionsphase bis zur Eröffnung, ein Alleinstellungsmerkmal geschaffen. Dadurch sind sie für ihren beruflichen Werdegang nach der Promotion besser zugerüstet als mancher Andere.

 

Kuratorium

 

ANNABEL BOKERN studierte Klassische Archäologie und Kunstgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihr Schwerpunkt liegt im Bereich der antiken Porträtforschung, wobei insbesondere die Gestaltung und die daraus abzuleitende Wirkmacht als Kommunikationsmedium im Innen- und Außenraum ihr Forschungsinteresse prägen. Das römische Imperium ab der Kaiserzeit bis in die Spätantike steht im Fokus ihrer Arbeit, das Nachleben von der Antike über die Neuzeit bis heute bildet jedoch immer wieder einen untrennbaren Teil der Geschichten ihrer Forschungsobjekte. Sie ist in der Lehre am Institut für Klassische Archäologie tätig, Kunstvermittlerin in der Liebieghaus Skulpturensammlung in Frankfurt und wissenschaftliche Koordinatorin des Graduiertenkollegs „Wert und Äquivalent“.

HANS PETER HAHN ist seit 2007 Professor für Ethnologie mit regionalem Schwerpunkt Westafrika. Seine Forschungsthemen sind materielle Kultur, Handwerk, Konsum und Globalisierung. Neben Projekten der internationalen Museumskooperation hat er Studien zu Konsumgütern sowie zum Gebrauch von Mobiltelefonen in Westafrika durchgeführt. Seine Publikationen umfassen Beiträge über Fahrräder, Plastiksandalen, Mobiltelefone und andere Alltagsgüter in Afrika, sowie zu wirtschaftsethnologischen Themen. Als Autor hat er eine „Einführung zu materieller Kultur“ (2. Aufl. 2014) verfasst und ein „Handbuch Materielle Kultur“ (2014) mit herausgegeben. Er ist seit April 2015 Sprecher des Graduiertenkollegs „Wert und Äquivalent“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats für das Humboldt-Forum in Berlin. Im Sommersemester 2015 hielt er sich als Gastwissenschaftler des Exzellenz-Clusters TOPOI an der FU Berlin auf. Sein Forschungsthema dort war ,Identität und materielle Kultur‘.

FLEUR KEMMERS studierte Europäische Archäologie mit dem Schwerpunkt Archäologie der römischen Provinzen an der Universiteit van Amsterdam. Mit ihrer Promotion an der Radboud Universiteit Nijmegen spezialisierte sie sich auf antike Numismatik. Im Anschluss an eine Stelle als Postdoc in Nijmegen kam sie 2010 nach Frankfurt als Lichtenbergprofessorin für Münze und Geld in der griechisch-römischen Antike. Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie Menschen in der Antike mit Münzen und Geld umgegangen sind, und umgekehrt, wie diese Objekte den Menschen beeinflusst haben. Dazu setzt sie Methoden und Theorien aus der Archäologie, Numismatik, Anthropologie, Metallurgie und den Wirtschaftswissenschaften ein. Seit der Begründung des Graduiertenkollegs „Wert und Äquivalent“ gehört sie zum Kreis der Antragsteller und Betreuer.

Menschen | Tun | Dinge

Produktion und Gebrauch

Implantate, wie Herzschrittmacher genauso wie der Traum von Computerchips auf der Haut, erwecken in uns die Vorstellung, dass wir bald zu Cyborgs werden. Dies ist jedoch ein Irrtum: Wir waren schon immer Cyborgs!
Menschen | Tun | Dinge Produktion und Gebrauch

Produktion und
Gebrauch —
Eine Geschichte
von Wunsch
und Erfüllung

Spätestens seit in Armbanduhren und Brillen Computerprozessoren verarbeitet werden, fühlen wir uns der Zukunft oder den Visionen aus Science-Fiction-Filmen um einiges näher. Implantate, wie Herzschrittmacher oder künstliche Gelenke, genauso wie der Gedanke von Computerchips auf der Haut oder im Körper, erwecken in uns die Vorstellung, dass wir bald zu Cyborgs werden – einem Hybriden aus Mensch und Maschine. Dies ist jedoch ein Irrtum: Wir waren schon immer Cyborgs!

Vom Faustkeil zur elektrischen Zahnbürste

Von Anfertigung und Gebrauch der ersten Steinwerkzeuge vor 3,3 Millionen Jahren bis hin zur elektrischen Zahnbürste mit Bluetooth-Verbindung zum Smartphone steht der Mensch in unmittelbarem Kontakt zu den Dingen. Dies ist eine der wenigen und wichtigsten Eigenschaften, die vor allem den Primaten Mensch aus der Tierwelt hervorhebt. Die vielfältige Rekombination von bereits vorhandenen Materialien und Formen zur Erschaffung von Neuem scheint eine genuin menschliche Eigenschaft zu sein. Das Verhältnis des Menschen zu den Dingen ist hochinteressant und komplex. So wie der Mensch Materialien zur Herstellung von Dingen ändert, verwendet und bearbeitet, so formen die Dinge durch ihre Produktion und Nutzung wiederum das Leben des Menschen. Diese Wechselwirkung veränderte im Laufe der Geschichte das Denken, Handeln und auch den Körper des Menschen. Und sie tut es noch. Am Beispiel eines alltäglichen Gegenstands, einer Zahnbürste, lässt sich die Wechselbeziehung von Mensch und Ding gut illustrieren. Täglich nimmt das Zähneputzen mehrere Minuten unserer Zeit in Anspruch. Mitunter mehr Zeit, als wir für ein Frühstück oder einen kurzen Guten-Morgen- Plausch mit unserem Partner aufbringen. Nicht zu reden von dem Aufwand, den wir bei der Auswahl einer Zahnbürste betreiben oder den möglichen Folgen, die eine selten genutzte Zahnbürste für die Gesundheit und Hygiene des Nutzers mit sich bringt. Doch bis dahin hat die Zahnbürste schon auf vielerlei andere Art unser Denken und Handeln beeinflusst.

Der Wunsch ist der Vater des Gedankens?

Zahnpflege beginnt mit dem Wechselspiel zwischen Wunsch und Notwendigkeit. Was braucht man dazu? Möglichkeiten gibt es viele, aber nicht alle sind gleich praktikabel. Denn das Werkzeug der Wahl muss zwangsläufig in den Mund passen. Auch das Material spielt bei dieser Überlegung eine wichtige Rolle: Welches ist zweckdienlich, welches verfügbar? Und woher das Material beziehen, wenn es vor Ort nicht zu bekommen ist? Wer fertigt die gewünschte Zahnbürste an, wo kann man sie kaufen? Welches Modell ist nützlich und gefällt? Fragen, die seit jeher bei der Konzeption und Herstellung eines Produkts gestellt werden. Und ist der Gegenstand produziert und wurde erfolgreich und beständig genutzt, was geschieht dann mit ihm? Wohin wandert die Zahnbürste, wenn ihre Borsten krumm und weich sind? Ist ihr ein ‚zweites Leben‘, z.B. als Schuhputzbürstchen, vergönnt oder landet sie im Müll? Und ist das wirklich die Endstation? Dinge verändern sich – durch den Produktionsprozess, durch den Gebrauch, durch Verschleiß und Zerstörung. Menschen ebenso und die Produktion und der Gebrauch von Dingen sind, durch die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch, maßgebend an dieser Veränderung beteiligt. Dass die Produktion von Dingen und die damit einhergehende Auswahl geeigneter Materialien und Herstellungsweisen regelrecht mit den Menschen verschmilzt und Einfluss auf ihr Leben nimmt, untersucht Henrik Junius am Beispiel der Eisenverhüttung in Westafrika vor bereits 2500 Jahren. Anhand archäologischer Funde verfolgt er den Prozess der Materialwahl und Produktion. Welches Material wurde verwendet? Gab es aufgrund der Materialverfügbarkeit verschiedene Wege oder nur eine mögliche Vorgehensweise der Eisenproduktion? Die untersuchten Funde lassen ein bestimmtes Verhältnis zwischen menschlicher Entscheidung, Material, materieller Verfügbarkeit und praktischer Umsetzung erkennen. Sie künden kaum von gesellschaftlichen Faktoren wie Ästhetik, Arbeitszeit oder spirituellen Bedürfnissen, zeichnen jedoch eine enge Beziehung zwischen Material, Prozess und dem Menschen.

Form follows function?

Doch zurück zu unserer Zahnbürste. Für eine gründliche Reinigung eignen sich am besten Borsten, die sich der Zahnoberfläche anpassen. Oft sind die Borsten kreuzweise oder in verschiedenen Winkeln angeordnet, angespitzt oder abgerundet. Um die Zahnzwischenräume erreichen zu können, darf der Bürstenkopf nicht allzu groß sein. Zudem muss er auf einem langen Stiel befestigt sein, der uns als Griff dient.  Die Form der Zahnbürste wird durch die Art des Gebrauchs und die Anatomie des Körpers bedingt. Dazu muss das geeignete und verfügbare Material zur Herstellung der Zahnbürste gefunden und verwendet werden. Dieses gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis betrifft selbstverständlich nicht nur die Zahnbürste. Alle anderen Gebrauchsgegenstände, so sie funktionieren sollen, unterliegen ebenfalls den Einflüssen von kultureller Auswahl, Funktion, Form und Material. In der Archäologie hilft das Wissen um diese Zwänge dabei, einen Fund zum Sprechen zu bringen. Denn ausgehend vom Objekt kann der Forscher Rückschlüsse auf dessen Verwendung ziehen und Hinweise zu dessen Wert und Herstellungsort finden. Diese Methode wählte Clarissa Agricola bei ihrem Versuch, das Rätsel der ‚Terra Nigra‘ zu lösen. Hierbei handelt es sich um eine spezielle Art von Keramik aus dem 3. bis 5. Jh. n. Chr. Ihre Spuren finden sich nicht nur in den römischen Provinzen, sondern auch in Germanien außerhalb des römischen Einflussgebietes. Die Erkennungszeichen dieser Feinkeramik sind Gefäße mit Fuß sowie eine glänzende, schwarze Oberfläche. Aber ist es wirklich so einfach? Wie wurden die Fußschalen gefertigt? Gibt es nicht doch Unterschiede in der Herstellungsweise der Gefäße? Und wo wurden diese produziert, wo befanden sich die Töpfereien? Ob das Rätsel um die Terra Nigra gelüftet werden kann, verrät Clarissa Agricola in ihrem Beitrag „Das Rätsel der Schwarzen Erde“.

Bestseller oder Ladenhüter – wie wir kaufen

Wie ergeht es zwischenzeitlich der Zahnbürste? Sie ist nun produziert und verpackt. Mit dem nächsten Schritt gelangt sie in die Läden oder Online-Shops, wo sie der Verbraucher erwerben kann. Der Kauf ist abhängig von den finanziellen Ressourcen des Käufers. Aber auch von dem Wert, den der Käufer der Bürste und deren Gebrauch beimisst. Spezielle Funktionen können den Wert noch steigern, z.B. elektrischer Antrieb, ein Schwingkopf, besondere Bürsten oder ein ansprechendes Dekor. Wie bei der Produktion wird auch das Verhalten des Kaufens vom sozialen und kulturellen Umfeld des Käufers beeinflusst. Der Besitz eines Gegenstands kann Ausdruck eines bestimmten, erstrebenswerten Lebensstils sein. Und nicht zuletzt spricht die Werbung zu uns. Sie appelliert an unser Unbewusstes und löst Gefühle aus, die den Wunsch nach einem bestimmten Produkt in uns wachsen lassen.
Ob es schon in der Antike Werbung gab? Fast könnte man es annehmen, war doch in der ersten Hälfte des 3. Jhs. v. Chr. Geschirr aus der Region rund um Athen – die attische Feinkeramik – im gesamten griechischen Mittelmeerraum weit verbreitet. Die Gefäße gefielen den Käufern so gut, dass man sie importierte, sich an ihren Formen orientierte und sie nachzuahmen versuchte. Aus der anfänglichen Imitation der beliebten Gefäße entwickelte sich bald eine eigene Formensprache, die in weiter östlich gelegenen Keramikwerkstätten ausgebildet wurde. In welchen Regionen Kleinasiens diese Werkstätten lagen und wie sich dort eine spezifische Keramikkultur herausbildete, möchte Laura Picht genauer wissen. Sie betrachtet dabei deren Entstehung, Entwicklung und mögliche räumliche Verschiebung. Ein zentrales Untersuchungsmoment ist die Frage nach dem Wert, der den verschiedenen Waren und Gefäßformen im jeweiligen Raum zugemessen wurde. Das Kaufverhalten in der Antike ist anhand der heute erhaltenen Scherben nur noch schwer nachzuweisen. Vermutlich wurden die Käufer aber bei der Entscheidung für ein bestimmtes Gefäß von den gleichen Faktoren beeinflusst, wie wir heute beim Kauf einer Zahnbürste.

Aus alt mach neu

Unsere Zahnbürste hat derweil unzählige Putzvorgänge hinter sich. Ihre Borsten sind weich, der Kunststoffgriff ist etwas spröde und der Markenname schon nicht mehr lesbar. Als Zahnbürste ist sie nicht mehr zu gebrauchen. So ergeht es allen Gebrauchsgegenständen. Irgendwann erreichen sie einen Zustand, in dem sie ihren ursprünglichen Nutzen nicht mehr erfüllen. Was bleibt, ist das Material. Nicht mehr in seiner Urform als Rohstoff, aber als Masse, die unter Umständen in andere Materialformen überführt werden kann. Nicht jedes Material lässt sich mit wenigen Arbeitsschritten wieder zu neuen Objekten formen. Bei anderen gelingt es mit einfachen Mitteln. So ist es heute – man denke an die Edelmetalle in alten Handys – und so war es auch schon in früheren Zeiten. In Griechenland und im kaiserzeitlichen Rom galten in der Antike Bildwerke aus Edelmetallen zugleich als Wertanlage. War die ursprüngliche Form nicht mehr brauchbar oder benötigte man das Material für einen dringenderen Zweck, konnten sie mit geringem Aufwand eingeschmolzen werden. Es entstanden neue Bildwerke oder Gegenstände des täglichen Gebrauchs wie z.B. Gefäße, Waffen oder Münzen. Diese Praxis beschränkte sich nicht allein auf Metall. Marmorne Standbilder wurden umgearbeitet und neu benannt. Trennte man sie von ihren ausgreifenden Teilen, konnte der entstandene Block als Mauerstein dienen. Aus Köpfen, Armen, oder Stützstreben brannte man Kalk und nutzte ihn als Mörtel und Putz. Dass diese Art der Umwandlung alter Bildwerke die Kosten und den zeitlichen Aufwand für die Erschaffung von neuen Bildwerken, aber auch die Errichtung von Befestigungen und Bauwerken senken konnte, erläutert Annabel Bokern in ihrem Beitrag, der die Reihe der hier versammelten Promotionsprojekte zum Themenbereich „Produktion und Gebrauch“ beschließt.

Und was wird nun aus der guten alten Zahnbürste? Wird auch sie noch einmal um- oder aufgearbeitet? Wer weiß? Sicher ist, dass es sich lohnt, über den Werdegang von Dingen, von der Herstellung bis zu ihrer möglichen Vernichtung oder ihrem natürlichen Zerfall, nachzudenken und diesen Prozess in Beziehung zu unserem Leben zu setzen. Vielleicht wird die Zahnbürste einmal als archäologischer Fund einen neuen Nutzen erhalten. Vielleicht treten wir ihr schon morgen im Museum als Ausstellungsstück gegenüber.

 

  — Clarissa Agricola, Annabel Bokern, Henrik Junius und Laura Picht

Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

Nok, Nigeria

Menschen | Tun | Dinge Produktion und Gebrauch

FeO + CO → Fe + CO₂
mal archäologisch —
Westafrikanische
Eisentechnologie
vor 2500 Jahren

Erst bei etwa 1200 °C wird Eisenoxid mit Kohlenstoffmonoxid zu Eisen reduziert. Wird diese Temperatur nicht erzielt, kann kein schmiedbares Eisen entstehen. Da metallisches Eisen nur selten natürlich anzutreffen ist, stellt diese Temperatur eine physikalische Barriere für die Herstellung von Eisenobjekten dar, die nur unter bestimmten Bedingungen durchbrochen werden kann. Dafür muss, wie bei jedem Brand, genügend Brennmaterial entzündet und mit Sauerstoff versorgt werden. Für die Dämmung der Wärme, der Installation von Erz und Brennmaterial sowie der kontrollierten Luftzufuhr finden technische Installationen wie Öfen ihre Verwendung. Die Form des Ofens sowie die Art der Luftzufuhr bestimmen, an welchem Ort innerhalb des Ofens die 1200 °C erreicht werden. Der Ofen muss robust genug für hohe Temperaturen sein und ebenso ausreichend Brennmaterial und Eisenerz aufnehmen können. Die Füllung des Ofens mit Brennmaterial und Eisenerz darf außerdem nicht wahllos erfolgen. Ihre Platzierung im Ofen hängt von der Form der Sauerstoffzufuhr und damit dem heißesten Punkt im Ofen ab. Abgesehen von industriellen Hochöfen bedarf es mindestens des sachkundigen Einsatzes eines Rennfeuerofens unter Zugabe von Holzkohle und einer kontinuierlichen Belüftung. In einem offenen Lagerfeuer werden kaum 1200 °C erreicht. Bereits vor etwa 2500 Jahren wurden in Westafrika Rennfeueröfen für die Verhüttung von Eisenerz gebaut und verwendet. Davon zeugen beispielsweise archäologische Funde aus dem heutigen Zentralnigeria. Kristalline oder glasartige Schmelzreste – die Schlacke – belegen dort den erfolgreichen Einsatz der Eisenproduktion. Die Schlacken lassen sich in 2500 Jahre alten Ofenresten und darunter liegenden Gruben finden. Der Rennfeuerofen erhielt seinen Namen durch das Abrinnen der Schlacke vom Eisenerz und vom Produkt der Verhüttung – der Luppe. Die Luppe ist ein Gemisch aus Eisenoxid mit hohen Eisenanteilen und kleineren Holzkohle- und Schlackeanteilen und stellt das gewünschte Endprodukt der Verhüttung dar. Das Hämmern der Luppe befreit diese von ungewünschten Schlackeanteilen und ermöglicht so die Anfertigung von eisernen Objekten. Schon vor ihrem Beginn müssen die zur Verhüttung benötigten Zutaten sorgfältig ausgewählt und bearbeitet werden. Zum Beispiel eröffnen Ofenbau, sowie die Beschaffung von Erzen und Brennmaterial einen Katalog notwendiger Handlungen, lassen jedoch auch immer Spielraum für Entscheidungen.
Eisenerze sind Minerale oder Gesteine mit einem unterschiedlich großen Anteil von Eisen. Bevor Eisenerz in einen Ofen gelangt, muss es als solches erkannt werden. In Westafrika gibt es eine Vielzahl von Eisenerzen in unterschiedlichen Lagerstätten. Einige Erze werden direkt vom Boden aufgesammelt, andere Erze müssen ausgegraben werden. Lagerstätten können anhand der Bodenbeschaffenheit, der Form der Landschaft und an bestimmtem Pflanzenbewuchs erkannt werden. Vom Boden aufgelesene Erze lassen sich nur in bestimmten Regionen der Landschaft finden. Eisenerze haben unterschiedliche Oberflächenstrukturen, Gewichte und Farben. Sie kommen zudem je nach Typ in unterschiedlichen Mengen an einem Ort vor. Durch die variierenden Eisenanteile im Erz kann aus Erzen mit hohem Eisenanteil bei gleicher Menge mehr Eisen gewonnen werden als bei Erzen mit einem geringeren Eisenanteil. Neben der Gewinnung, dem Transport und der Auswahl des Erzes kann dieses vor der eigentlichen Verhüttung zerkleinert oder geröstet werden. Durch das Zerkleinern wird die Oberfläche des Erzes erhöht, um die Reduktion zu Eisen erleichtern. Durch Hitze können beim Rösten schon vor der Verhüttung ungewünschte Stoffe wie Schwefeloxide aus dem Erz entfernt werden. Bevor also ein Eisenerz Teil des Verhüttungsvorganges wird, bestehen vielfältige Möglichkeiten der Auswahl und Behandlung des Erzes durch den Menschen. Sowohl die Kenntnisse über als auch der Umgang mit den Erzen können demnach äußerst variabel sein. Dies gilt auch für das Brennmaterial und den Bau des Ofens. Pflanzliches Material kann vor seinem Einbringen in den Ofen zu Holzkohle verarbeitet werden. Viele Holzarten oder -formen würden nicht lang und heiß genug brennen. Auch für die Herstellung von Holzkohle steht ein großes Repertoire an Möglichkeiten offen. Büsche und Bäume wachsen zu unterschiedlichen Jahreszeiten verschieden schnell. Zudem tragen sie mal mehr und mal weniger Blätter. Sie wachsen an leicht oder schwer zugänglichen Orten. Verschiedene Holzarten lassen sich unterschiedlich leicht zu Holzkohle verarbeiten. Dabei schwelen sie unterschiedlich lange und heiß. Neben der Farbe, dem Gewicht, der Form oder dem Geruch des Holzes ist auch dessen Härte von besonderer Bedeutung. Bestimmte Bäume und Büsche lassen sich mit variierendem Aufwand fällen oder ausreißen. Harte Hölzer sind nicht nur schwerer zu zerteilen, sie wachsen auch langsamer nach. Je nach Umwelt und Umfang der Verhüttung könnte eine Rohstoffknappheit entstehen.
Die Form des Ofens hängt vom Material ab, aus dem er gebaut wird. Das Material muss robust genug für 1200 °C über mehrere Stunden sein. Aus Lehm oder Steinen, welche die hohe Temperatur des Verhüttungsvorganges aushalten, können nur bestimmte Strukturen geformt werden. Scheinbar leicht lassen sich Wände aus Lehmziegeln oder Steinen bauen. Jedoch muss immer noch ausreichend Sauerstoff in den Innenraum der Konstruktion gelangen können. Die Luft kann dafür mit Blasebälgen manuell durch in die Ofenwand eingelassene Lehmröhren gepumpt werden. Bei der richtigen Positionierung des Ofens kann sogar der Wind – bei einer entsprechend großen Öffnung – den Ofen versorgen. Die Öffnungen zur Belüftung können sich an allen Stellen des Ofens befinden. Weitere Öffnungen dienen nicht nur der Belüftung. So können durch Löcher in der Ofenwand während oder nach dem Brennvorgang Schlacke oder Luppe entnommen und Brennmaterial hinzugefügt werden. Damit kann ein Ofen länger in Betrieb bleiben oder wieder verwendet werden. Sollten die Öffnungen nicht angebracht werden, muss der Ofen nach dem Brennvorgang zerstört werden. Nur so ist der Zugang zur Luppe möglich. Während der Verhüttung verbinden sich Stoffe aus der Ofenwand, der Holzkohle und dem Eisenerz zu Eisenschlacke. Die Schlacke ist somit in gewissem Sinne eine Synthese aus allen am Vorgang beteiligten Stoffen. Viele chemische Komponenten des Ofens, der Holzkohle oder des Erzes lassen sich in der Schlacke wiederfinden. Die Zusammensetzung der Schlacke stellt einen Fingerabdruck der verwendeten Zutaten dar. Die Oberfläche, das Gewicht, die Farbe und Form der archäologischen Funde informieren über die Bauweise des Ofens oder den Eisenanteil in Erz, Schlacke oder Luppe. Mit dem bloßen Auge kann beispielsweise der Art und dem Ursprung des Lehms für den Ofenbau nur schwer nachgespürt werden. Ohne weitere Gerätschaften muss auch die Zusammensetzung der Schlacke unbekannt bleiben. Für eine detaillierte Rekonstruktion des Prozesses bedarf es daher einer Bandbreite naturwissenschaftlicher Methoden.
Die chemische Zusammensetzung aller beteiligten Materialien kann durch verschiedene Verfahren der Massenspektrometrie bestimmt werden. Deshalb enden viele Funde von Schlacken, aber auch von Luppen, Keramikresten oder Eisenerzen im Labor. Die Ergebnisse aus dem Labor ermöglichen im Ideal fall eine Eingrenzung der vom Menschen genutzten Materialien. Diese Eingrenzung ermöglicht nicht nur die Rekonstruktion des zeitlich weit zurückliegenden Verhüttungsprozesses. Sie ermöglicht die Rekonstruktion menschlicher Entscheidungen und damit verknüpfter Handlungen. Soziale Gründe für die jeweils rekonstruierten Entscheidungen bleiben leider ungewiss. Die Entscheidungen könnten auf jeder individuellen oder gesellschaftlichen Ebene vollzogen worden sein. Spirituelle, wirtschaftliche oder politische Gründe sind einzeln aber auch in wahlloser Kombination denkbar.  Die aufgezeigten Entscheidungsräume zu Eisenerz, Holzkohle und dem Ofenbau zeigen eine gewisse Entscheidungsfreiheit in der Rahmung des physikalisch Machbaren. Je nach Entscheidung für das eine oder das andere Material ergeben sich verschiedene, mit diesen Dingen verknüpfte Handlungen. Durch die Rekonstruktion der Verhüttung können gleich mehrere Entscheidungen für Dinge oder Handlungen eingegrenzt werden. Die naturwissenschaftliche Bestimmung eines Erzes aus dem archäologischen Kontext setzt das damalige Erkennen des Erzes und der Erzvorkommen wie die richtige Handhabung bei der Gewinnung, dem Transport und der Verhüttung des Erzes voraus. Jeder einzelne vorausgesetzte Aspekt eröffnet erneut ein Geflecht aus einer Vielzahl möglicher aber auch  notwendiger Denkmuster, Bewegungen, Transportwege sowie Dingen wie etwa Tragebehältern oder Werkzeug. Der sich durch die Landschaft von Möglichkeiten und Notwendigkeiten bewegende Mensch ist in diese eingebettet. Die archäologische Rekonstruktion dieses Geflechts kann jedoch nur in unterschiedlicher Detailtiefe erfolgen. Die Untersuchung der wenigen archäologisch überlieferten Funde westafrikanischer Eisenherstellung ermöglicht jedoch schon einen recht tiefen Einblick in einen Teil 2500 Jahre alter materieller Kultur und einer damit verbundenen Landschaft menschlicher Aktivität.

3D-Modell einer Schlacke

Die glatten Flächen sind durch den Kontakt mit Oberflächen wie der Gruben- oder Ofenwand entstanden, die porösen dagegen eher durch Gas oder die Berührung mit lockerem Material wie Holzkohle. Diese wichtigen Informationen können Aufschluss über die Position der Schlacke im Ofen bzw. die Struktur des Ofens selbst geben.

3D-Scan und Modell: Nico Serba, Frankfurt University of Applied Sciences

Tuyèren für die Belüftung eines Ofens

Die hohlen Lehmröhren waren mit großer Wahrscheinlichkeit in die Ofenwand eingelassen, um die Luftzufuhr während des Brennvorganges gewährleisten zu können. Bei dieser Größe und dem daraus resultierenden Innendurchmesser ist momentan noch unklar, ob die Luft durch den Kamineffekt oder durch einen Blasebalg hindurch geblasen wurde.
© DFG-Langfristvorhaben "The Nigerian Nok Culture", Goethe-Universität Frankfurt

Anschliff einer Schlacke unter dem Lichtmikroskop

Im Labor werden die Überreste der Verhüttung – meist Eisenschlacken – mikroskopisch untersucht. Unter dem Lichtmikroskop sind verschiedene Phasen der Schlackengenese zu sehen. Diese setzen sich hier in unterschiedlichen Graustufen voneinander ab.
© DFG-Langfristvorhaben "The Nigerian Nok Culture", Goethe-Universität Frankfurt

Schlacke aus einem Verhüttungsofen

Die Schlacke aus den Zentralnigerianischen Verhüttungsöfen des mittleren ersten Jahrtausends vor Christus wird meist in Ofengruben entdeckt und ausgegraben. Im Verhältnis zu anderen Verhüttungstechniken Afrikas oder Europas sind die Schlacken hier relativ klein. Es konnte sich während dem Verhüttungsvorgang kein großer Block bilden. Andere Dinge wie Brennholz oder Teile der Ofenkonstruktion waren im Weg.
© DFG-Langfristvorhaben "The Nigerian Nok Culture", Goethe-Universität Frankfurt

Ofenfundstelle mit mehreren Verhüttungsöfen

An vielen Fundstellen, welche meist durch Zufall auf offenen Flächen, wie Straßen, entdeckt werden, lassen sich mehrere Öfen finden. Es wurde also an einem Ort mehrmals Eisen produziert. Leider kann nicht festgestellt werden, ob dies parallel oder zeitlich versetzt geschah.
© DFG-Langfristvorhaben "The Nigerian Nok Culture", Goethe-Universität Frankfurt

Verhüttungsöfen nach der Ausgrabung

Die ca. 2500 Jahre alten Verhüttungsöfen sind etwa einen Meter breit und manchmal nicht mehr als 20 Zentimeter hoch. Unterhalb der noch erhaltenen Ofenwände befinden sich meist Gruben, welche die Schlacke, die während des Verhüttungsprozesses anfiel, auffangen sollte. Damit wurde verhindert, dass der Ofeninnenraum oder die Luftzufuhr verstopfte.
© DFG-Langfristvorhaben "The Nigerian Nok Culture", Goethe-Universität Frankfurt

Verhüttungslandschaft in Zentralnigeria

© DFG-Langfristvorhaben "The Nigerian Nok Culture", Goethe-Universität Frankfurt

Menschen | Tun | Dinge Produktion und Gebrauch

Interview Henrik Junius

Stell dir vor, du erklärst einem Laien vor Ort dein Promotionsthema.

Was sagst Du?

Ich beschäftige mich mit der frühesten Form der Eisentechnologie in Westafrika und wie diese archäologisch zu beurteilen ist, im Sinne von technologischem Wandel und früher Metalltechnik. In Westafrika ist die früheste Form von Metalltechnik die Eisenverarbeitung. Und das ist natürlich ein starker Kontrast zu anderen Regionen wie zum Beispiel Europa, wo Eisen auf Kupfer und Bronze folgt und so weiter. Und es ist eben dort ganz anders zu verstehen. Das ist auch gut so, weil sich die afrikanische Archäologie lange Zeit von der europäischen genährt hat und das soll im Idealfall nicht so sein, sondern afrikanische Archäologie soll Afrika Archäologie machen und keine europäischen Modelle leihen.

Wie gehst du dabei vor?

Zum einen ist es erst einmal eine große Literaturstudie. Das ist ganz klar. Also die Region, mit der ich mich insbesondere beschäftige, ist die Region in Zentralnigeria und auch der sogenannten archäologischen Nok-Kultur, die sich so im 1. Jahrtausend vor Christus dort wohl befand. Und unter Kultur versteht man natürlich keine Kultur, sondern einen gewissen Formenkreis an Objekten, die eben in dieser Region zeitgleich vorkommen und dazu gehört eben auch die Eisenverhüttung. Aber es gibt natürlich viele andere Regionen in Westafrika, in denen es genauso früh Eisenverarbeitung schon gibt. Es gibt sehr viel Literatur darüber und die muss man auch erst einmal gesehen haben, gelesen haben, studiert haben. Um zu wissen, was für Material es dort gibt, wie es aussieht, wie es datiert, welche anderen Materialien damit vergesellschaftet sind und so weiter und so fort. Und das ist zu einem großen Teil der so genannte archäologische Kontext. Und dann beschäftige ich mich auch mit Technologien im Allgemeinen. Was ist Technik? Was ist Technologie? Wie ist das in der Archäologie zu verstehen? Wie aber auch allgemein in den Kulturwissenschaften. Da gibt es unheimlich viel Literatur. Also das nimmt ja gar kein Ende. Von Soziologie bis Kulturanthropologie ist da alles geboten.

Für mich bleibt aber natürlich die Frage, wie ist das archäologisch zu verstehen und da sind die aktuellen Bewegungen in den material culture studies eben auch wichtig, die sich viel mit Technologie beschäftigen und wie das zu verstehen ist. Da bin ich zum Beispiel  bei der französischen Schule der Anthropologie der Technologie hängen geblieben, die einzelne Technologien nicht isoliert versteht, sondern ineinander verschachtelt. Es gibt nicht nur die eine Eisentechnik und die eine Keramiktechnik, sondern es gibt viele verschiedene Technologien oder Handlungen, die miteinander verknüpft sind und da sollte man schauen, dass das nicht immer nur das eine ist, sondern eben alles gemeinsam. Das ist natürlich wieder verknüpft mit materieller Kultur. Handlungen selbst können wir als Archäologen überhaupt nicht feststellen, sondern eben nur die Objekte sehen, die mit bestimmten Handlungen verbunden sind. Also mit bestimmten Zwangsläufigkeiten, die man dort dann feststellen möchte. Und das, und jetzt kommen wir weg von der Literatur, macht man zum einen klassisch archäologisch, man schaut sich die Sachen erst einmal makroskopisch an. Da kann man dann schon sehr viel darüber sagen. Und die Sachen, die ich mir anschaue, sind eben die Überreste der Eisenverhüttung in Zentralnigeria. Das sind alte Eisenverhüttungsöfen, die Reste davon. Also Ofenwand oder Schlacke, das sind so glasartige kristalline Reste von der Eisenverhüttung. Eisenobjekte gibt es selbst auch wenige, aber die sind nicht so sehr in meinem Fokus, da es nur sehr wenige sind. Und natürlich auch die Holzkohle, die das alte Brennmaterial darstellt. Und das schaut man sich ebenfalls makroskopisch an: Wo kommt das vor, wie ist es verteilt auf dem Fundstellen, darüber lässt sich schon sehr viel sagen. Aber dann natürlich auch mikroskopisch und auch durch Massenspektrometrie. Also durch chemisch-physikalische Methoden. Das mach zum Glück nicht ich selbst, sondern das habe ich in Auftrag gegeben bei verschiedenen Leuten. Ds ist zum Beispiel auch die Archäobotanik hier in Frankfurt selbst beteiligt, aber auch Labore zum Beispiel in England. Also Literaturstudie, die Analysen, das alles läuft dann irgendwie zusammen in meine Hand und ich versuche dann daraus irgendwie eine These zu formulieren. Oder vielleicht sogar mehrere Thesen.

Es wäre schön gewesen, selbst in Zentralnigeria Ausgrabungen nochmal zu machen. Zumindest Kleine, zumindest einen Ofen noch einmal selbst auszugraben, das dauert gar nicht mal so lange, das sind dann irgendwie zwei drei Wochen Feldarbeit. Aber das ist zurzeit leider aufgrund der politischen Lage nicht möglich. Im Ausland war ich jetzt in verschiedenen Labors oder in Südafrika auf einer Konferenz.  Vor Ort, hier in Frankfurt, schaue ich mir Funde an, die bereits zwischen 2005 und 2013 ausgegraben worden und auch hier in Frankfurt auf Lager sind. Vielleicht in der Zukunft, wenn es wieder stabiler ist in Nigeria, dann kann ich selbst etwas ausgraben, aber momentan ist das leider nicht möglich.

Gab es Momente der Überraschung während deiner Forschung?

Also eine positive Überraschung war, dass die Afrika Archäologie eine sehr sehr freundschaftliche enge Gemeinschaft ist. Da hat man das Gefühl alle helfen sich gegenseitig und die Kommunikation funktioniert sehr gut. Die Konferenzen sind sehr interessant. Sehr angenehm vom Arbeitsklima, weil ich glaube, dass dort alle gemeinsame Probleme teilen und man sich eben dann dort auch versucht zu helfen. Das war eine sehr große positive Überraschung, die mich auch mit dazu bewegt hat möglichst in dem Fach zu bleiben. Die Forschungsgemeinschaft ist sehr angenehm. Und ich finde das ist, neben der Forschungsthematik selbstverständlich, natürlich auch ein wichtiger Aspekt vom Berufsleben, wenn man sich wohl fühlt. Also wenn man sich dort fachlich und menschlich wohlfühlt. Das war eine große positive Überraschung. Negative Überraschung war, aber das war was, was man auch mit absehen konnte, aber ich war trotzdem überrascht, wie lange es dann dauert solche Materialanalysen, von denen ich ja bereits sprach, wie lange das dann dauert. Wie zeitintensiv das ist. Und auch so etwas zu integrieren in ein dreijähriges Promotionsprojekt. Denn so wie immer, bräuchte man dafür auch mehr Zeit.

Welchen Einfluss auf die heutige Forschung erhoffst du dir von deinen Forschungsergebnissen?

Ich glaube, dass die Archäometallurgie als solche ein eigenes Fach darstellt innerhalb des archäologischen Forschungsapparats. Und zwar gibt es schon seit mindestens 20 Jahren oder noch länger, Bestrebungen, die Analyseergebnisse in die Kulturwissenschaft zu integrieren. Außer der Forderung nach Integration ist das aber in meinen Augen noch nicht so gut passiert bisher. Und ich versuche dafür einen kleinen Beitrag zu leisten. Einen Weg vielleicht zu zeigen, wie man es machen könnte. Der vielleicht noch nicht bedacht wurde, weil er auf sehr innovativen Gedanken aus den material culture studies basiert. Also das konnte vielleicht bisher so noch gar nicht gemacht werden, weil es dafür diese Literatur nicht gab. Oder es diese Gedanken dazu gar nicht gab. Meine Hoffnung ist einen relativ aktuellen Beitrag dazu zu leisten. Also wie kann man material culture studies und naturwissenschaftliche Analysen vereinen. Das denke ich ist so für mich ein wichtiger Beitrag und vielleicht auch meine größte Motivation überhaupt Analysen machen zu lassen.

Wo siehst du dich in 10 Jahren?

Schwer zu sagen. Also als ich mein Studium abschloss, wollte ich auf gar keinen Fall an der Uni bleiben. Das war für mich ausgeschlossen. Aber durch die Internationalität meines Faches, also die Afrika Archäologie, habe ich das sehr genossen, sage ich mal einen gewissen freien Forschergeist, der da vorherrscht und auch die Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern. Der Austausch, die Möglichkeit sich zumindest in der Thematik relativ frei bewegen zu können und auch die wissenschaftliche Diskussion hat mir sehr gut gefallen. Und das alles hat mich der Uni wieder näher gebracht. Momentan würde ich sagen, dass ich hoffen würde, dass ich in 10 Jahren immer noch an der Uni arbeiten kann.

HENRIK JUNIUS  studierte Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie, Archäologie des Mittelalters sowie Naturwissenschaftliche Archäologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen und der Brown University (USA). Er nahm an verschiedenen archäologischen Ausgrabungen im In- und Ausland teil. Bereits während des Studiums faszinierte ihn die archäologische Kontextualisierung naturwissenschaftlicher Daten. Diesem Interesse geht er seit dem Abschluss des Studiums mit seinem Promotionsvorhaben in der Archäologie Afrikas als Mitglied des Graduiertenkollegs „Wert und Äquivalent“ an der Goethe Universität in Frankfurt weiter nach.

 

 

Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

Nijmegen, Köln sowie mehrere Orte im Hellweg (Zone zwischen Ruhr und Lippe): Kamen-Westick, Castrop-Rauxel, Essen-Hinsel

Menschen | Tun | Dinge Produktion und Gebrauch

Das Rätsel der
‚Schwarzen Erde‘ —
Herkunft und Produktion
spätantiker Terra Nigra

In der heutigen Gesellschaft handelt es sich bei Keramik um industrielle Massenware, aus der Schüsseln, Teller, Schalen, Tassen und vieles mehr hergestellt werden. Damit ist die Keramik fest mit unserem Alltag verknüpft und begleitet uns bei den täglichen Mahlzeiten. In der Antike zeigt sich ein ähnliches Bild, in dem die Keramikgefäße einen hohen Stellenwert im alltäglichen Leben einnahmen. Sie wurden für den Transport von Waren, zur Aufbewahrung von Lebensmitteln, für das Kochen und natürlich zum Essen und Trinken verwendet. Dadurch ergibt es sich unvermeidlich, dass ein Großteil des archäologischen Fundmaterials aus Keramik besteht. Diese stellt für Archäologen eine der wichtigsten Fundgattungen dar.

‚Schwarze Erde‘ und Keramik?

Doch was hat ‚Schwarze Erde‘ mit Keramik zu tun? In den germanischen Fundplätzen Nordwestdeutschlands und den angrenzenden Niederlanden wird das Fundspektrum ebenfalls stark von Keramik beherrscht. Dabei handelt es sich zum einen um handgemachte, einheimische Keramik und zum anderen um Drehscheibenware. Diese zeichnet sich durch ihre Herstellung auf einer schnell rotierenden Töpferscheibe aus und wurde aus dem angrenzenden römischen Reich importiert. Innerhalb der Drehscheibenware sticht jedoch eine Warenart besonders hervor. Es handelt sich hierbei um die sogenannte ‚spätrömische Terra Nigra‘, die in das 4. und frühe 5. Jh. n. Chr. datiert. Der Begriff ‚Terra Nigra‘ bedeutet ‚schwarze Erde‘ und bezieht sich dabei auf die dunkle Oberfläche der Gefäße. Vorzugsweise wurden in dieser Warenart sogenannte Fußschalen produziert, die durch einen geschwungenen Wandungsverlauf mit deutlich ausgeprägter Schulter sowie einen abgesetzten Fuß gekennzeichnet sind. Diese Gefäße wurden sowohl in größeren Schalenformen, für die eine Nutzung als Trinkgeschirr wahrscheinlich ist, als auch in kleinen Napfformen hergestellt.
Eine Deutung als Trinkgeschirr ergibt sich durch die becherartige Form der Gefäße, die durch den ausgeprägten Schulterbereich und den abgesetzten Fuß gut zu greifen sind. Unterstützt wird diese Deutung durch den leicht ausbiegenden Rand, der sich der Lippenform anpasst. Als Verzierungen dienten oft mehrreihige horizontale Kerbbänder, die über die Oberfläche verteilt angebracht sind. Die Ursprünge der Warenart und der charakteristischen Gefäßform sowie die Töpfereien, in denen die Gefäße produziert wurden, sind bislang unbekannt. Aufgrund der Fertigungsweise und ihrer Fundkontexte in germanischen Siedlungen außerhalb des römischen Reiches galt diese Keramik lange Zeit als speziell für die Germanen gefertigtes römisches Importgut. Argumente für eine römische Herstellung sind die gute Tonqualität, die römisch geprägte Herstellungsweise sowie die Tatsache, dass im römischen Provinzgebiet Vorläuferformen der Fußschalen bis in das 1. Jh. n. Chr. nachweisbar sind. Dagegen spricht die Tatsache, dass auch im germanischen Bereich in dieser Zeit entsprechend geformte handaufgebaute Gefäße existierten, die als Vorläuferformen gelten können. Weiterhin spricht das geringe Vorkommen von Fußschalen im provinzialrömischen Bereich gegen eine Herstellung innerhalb des römischen Reiches.

Die Herstellung der ‚schwarzen Erde‘

Die ‚spätrömische Terra Nigra‘ ist eine sogenannte Drehscheibenkeramik. Damit wird eine bestimmte Technik zur Herstellung von Keramik beschrieben. Bei dieser wird die vorbereitete Tonmasse auf eine schnell drehende Töpferscheibe gesetzt und mit der Hand ausgeformt. Mit Hilfe entsprechender Werkzeuge werden Rillen oder Absätze angebracht und das Gefäß abschließend geglättet. Oft sind an der Oberfläche noch entsprechende Glätt- und Polierspuren erkennbar. Anschließend werden an verschiedenen Stellen des Gefäßes die mehrreihigen Verzierungen mit Hilfe eines federnden Metallplättchens angebracht. Nachdem das Gefäß fertig gedreht und verziert ist, wird es zum Trocknen aufgestellt. Das Trocknen der Gefäße verhindert, dass die im Ton enthaltene Feuchtigkeit beim Brennvorgang zu schnell verdunstet und Risse entstehen. Im nächsten Arbeitsschritt findet das Brennen der Gefäße in einem Töpferofen statt. Am Ende des Brennprozesses wird eine sogenannte Rauchung durchgeführt, bei der die Gefäße unter Abschluss von Sauerstoff gebrannt werden. Bei diesem Vorgang werden Kohlenstoffpartikel an der Oberfläche eingelagert, wodurch die charakteristische Farbgebung entsteht. Dieses Herstellungsverfahren wurde vor allem bei Gefäßen aus der Hellwegzone, dem Gebiet zwischen Lippe und Ruhr in Nordrhein-Westfalen, und den angrenzenden Gebieten der Niederlande angewendet.
Alternativ zu der beschriebenen Herstellungsweise lässt sich noch eine andere Technik nachvollziehen. Dabei werden die Gefäße vor dem Brand zusätzlich mit einem Überzug aus feinem Tonschlicker überzogen. Dadurch erhalten die Schalen eine glänzende Oberfläche. Diese Technik ist von Fundorten aus den Niederlanden, Belgien und Frankreich bekannt.

Alles gleich oder doch alles anders?

Um Keramikfunde übersichtlich zu gliedern, werden sogenannte Warengruppen gebildet. Diese zeichnen sich durch gleiche Herstellungstechniken und Toneigenschaften aus. Der Begriff ‚spätrömische Terra Nigra‘ vereint mehrere unterschiedliche Warengruppen. Alle zeichnen sich durch die charakteristische Fußschalenform sowie eine dunkle Oberflächenfarbe aus. Vor allem in der Hellwegzone Nordwestdeutschlands findet sich eine Variante der spätrömischen Terra Nigra, die durch einen hellen, fast weißen Ton und durch eine graue bis schwarze Oberfläche erkennbar ist. Teilweise kann man an den Oberflächen der Gefäße einen graphitartigen Glanz erkennen. Diese Ware wird in der Forschung als ‚Hellwegware‘ bezeichnet und ist in geringen Mengen in den angrenzenden niederländischen Gebieten vorhanden. In den Fundorten der Hellwegzone ist die Terra Nigra jedoch in großen Mengen vertreten. Deswegen vermuten einige Forscher, dass sich die entsprechenden Töpfereien im Hellwegraum befinden. Eine weitere Warenart der ‚spätrömischen Terra Nigra‘ zeichnet sich durch eine dunkle Engobe aus, die eine glänzende und glatte Oberfläche erzeugt. Diese Variante ist von niederländischen und französischen Fundorten bekannt. Im Gegensatz zu der bereits vorgestellten Hellwegware wird eine Produktion dieser Ware innerhalb des römischen Reiches im heutigen Frankreich angenommen. Neben den bereits beschriebenen Varianten der ‚spätrömischen Terra Nigra‘, kann man in Belgien und Frankreich noch andere Arten dieser Ware erfassen. Auf Grund von Zusätzen im Ton, wie zum Beispiel feinem Sand, zeichnen sich die Schalen durch eine raue Oberfläche aus. Verbindendes Element zwischen allen Warenarten ist die Form sowie die zeitliche Einordnung der Gefäße. Ob es weiterhin möglich ist, alle Warenarten unter dem Begriff ‚spätrömische Terra Nigra‘ zusammenzufassen, ist ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit. Im Zentrum steht jedoch die genaue Untersuchung und Beschreibung der ‚Hellwegware‘. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Suche nach möglichen Produktionsorten sowie eine detaillierte Beschreibung der Warenart und der dazugehörigen Fußschalenformen. Wichtig ist es hierbei, eine klare Abgrenzung zu anderen Warenarten der ‚spätrömischen Terra Nigra‘ vorzunehmen, um zu überprüfen, inwiefern die Bezeichnung ‚spätrömische Terra Nigra‘ zutreffend ist.

‚Chemische Fingerabdrucke‘ und mögliche Töpfereien

Ursprung, Herkunft und Entstehung der ‚spätrömischen Terra Nigra‘ sind bislang noch unbekannt. In der Forschung steht die Annahme einer provinzialrömischen Produktion der einer germanischen Produktion gegenüber. Allerdings muss die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass die Terra Nigra das Endprodukt einer zunehmenden kulturellen Vermischung bildet und verschiedene Traditionen in dieser Keramikware vereint sind. Eine wichtige Frage ist, ob die Terra Nigra zuerst im provinzialrömischen Gebiet produziert wurde und als Importware zu den Germanen gelangte, wo sie auf Grund ihrer Beliebtheit in regionalen Töpfereien nachgeahmt wurde. Um dies zu klären, sind vor allem zwei Fragen wichtig: Wurde die Keramik in einem großen Produktionszentrum oder in mehreren kleinen Töpfereien hergestellt? Liegen die Töpfereien inner- oder außerhalb des römischen Provinzgebietes?
Um Hinweise auf mögliche Produktionsorte zu erhalten, können geochemische Methoden eingesetzt werden. Jede Töpferei verwendet in der Regel einen bestimmten Ton, der sich durch die Zusammensetzung und den spezifischen Gehalt einzelner Elemente auszeichnet. Diese Zusammensetzung ist vergleichbar mit einem ‚chemischen Fingerabdruck‘, der für die einzelnen Töpfereistandorte charakteristisch ist. Diese ‚chemischen Fingerabdrücke‘ werden als Referenzgruppen bezeichnet. Im Rahmen meiner Arbeit wurde erstmals die sogenannte ‚Hellwegware‘ geochemisch untersucht, um Rückschlüsse auf mögliche Produktionsorte zu ziehen. Die Probenserie umfasst Gefäße aus der Hellwegzone, dem Hauptverbreitungsgebiet dieser Ware, sowie Gefäße von ausgewählten Fundorten aus den Niederlanden und der Region um Köln. Der Ton der ‚Hellwegware‘ ist typisch für Tonlagerstätten, die sich vor allem durch helle, weißbrennende Tone auszeichnen. Solche Tonlagerstätten sind unter anderem an der Rhein-Mittelterrasse um Köln, Bonn und Neuss zu finden. Da sich für die römische Zeit in diesem Gebiet große Töpfereizentren nachweisen lassen, wurden die ‚chemischen Fingerabdrücke‘ dieser Töpfereien mit den Elementgehalten der Hellwegware verglichen. Tatsächlich ergeben sich Übereinstimmungen mit den Referenzgruppen dieser Töpfereien. Jedoch lassen sich auf archäologischem Weg bislang keine Nachweise für eine Produktion in einem der drei Töpferstandorte finden. Weitere Analysen und Untersuchungen der Keramik sind somit notwendig, um die offenen Fragen nach Ursprung und Herkunft zu klären. Damit bleibt die ‚schwarze Erde‘ zumindest vorerst teilweise noch ein Rätsel.


LITERATUR:

Erdrich, M. 1998: Terra Nigra-Fußschalen wie Chenet 342 und Gellep 273: eine salisch-fränkische Keramikgattung. Germania 76, 875–883.
 
Halpaap, R. 1983: Verzierte Terra-Nigra-Fußschalen vom Typ „Gellep 273“. Anhaltspunkte zur zeitlichen Einordnung und Provenienz. Boreas 6, 291–303.
 
Mildenberger, G. 1972: Terra Nigra aus Nordhessen. Fundber. Hessen 12, 104–126.

3D-Modell einer sogenannten Fußschale

Bei dem für das Modell eingescannten Gefäß handelt es sich um die in der Friedberger Keramikwerkstatt hergestellten Replik. Da häufig keine intakten Gefäße bei den Ausgrabungen zu Tage kommen, ist das Einscannen bei den Originalen meist nicht möglich. Es bietet sich bei Scherben daher für 3D-Modelle eher ein rekonstruktives Verfahren an, bei dem auf der Grundlage von Zeichnungen des Wandungsprofils die Form errechnet wird.
3D-Scan und Modell: Nico Serba, Frankfurt University of Applied Sciences

Zeichnung verschiedener Fußschalenformen

Neben den großen Schalenformen treten im Fundmaterial auch häufig kleinere Napfformen auf, die in ihrer Formgebung den größeren Schalen entsprechen. Das Verbreitungsgebiet dieser Gefäßformen erstreckt sich von Nordwestdeutschland über die Niederlande und Belgien bis nach Nordfrankreich. Diese Trinkgefäße sind vor allem in germanischen Siedlungen und Gräberfeldern zu finden.
Zeichnung: Clarissa Agricola

Verbreitung der Fußschalenformen im 4. und Anfang des 5. Jh. n. Chr.

Die Karte zeigt das Verbreitungsgebiet von Fußschalen des 4. bis Anfang 5. Jh. sowohl innerhalb als auch außerhalb der römischen Provinzgebiete. Auffällig ist vor allem die Fundhäufung entlang der Flüsse, wie etwa dem Rhein. Hieraus lässt sich ableiten, dass die Flüsse als Handels- und Transportwege für die Keramik genutzt wurden.
Zeichnung: Martina Miocevic, nach der Kartierung von Clarissa Agricola

Fragmente einer Fußschale, 4. Jh. n. Chr.

Die spätrömische Terra Nigra setzt sich aus einer großen Vielfalt an Warengruppen zusammen. Diese Warengruppen zeichnen sich jeweils durch gleiche Herstellungstechniken und Toneigenschaften aus. Eine besondere Warengruppe ist die sogenannte Hellwegware, für die eine fleckige, graue bis hellgraue Oberfläche typisch ist. Stellenweise ist ein charakteristischer metallischer Glanz erkennbar. Verziert sind diese Gefäße mit umlaufenden Kerbbändern. Diese Variante der spätrömischen Terra Nigra ist vor allem im Hellwegraum in Nordwestdeutschland verbreitet.
Foto: Birgitta Schödel, Goethe-Universität Frankfurt

Rekonstruktion eines Terra Nigra-Gefäßes

Kennzeichnend für die Terra Nigra sind die dunkle Oberfläche sowie die Verzierungen in Form von umlaufenden Kerbbändern. Anhand der archäologischen Funde wurden moderne Gefäßrepliken angefertigt um die Herstellungsweise der Terra Nigra nachzuvollziehen. Nach dem Drehen und Ausformen werden die Gefäße mit Hilfe eines dünnen Metallplättchens verziert. Anschließend werden diese unter Abschluss von Sauerstoff gebrannt, wodurch die dunkle Oberfläche entsteht.

Der Film zeigt die Herstellung von Repliken durch Elisabeth Reuter von der Keramikgalerie Friedberg.
Gefäße: Elisabeth Reuter, Keramikgalerie Friedberg. Film: Clarissa Agricola
Menschen | Tun | Dinge Produktion und Gebrauch

Interview Clarissa Agricola

1. Stell dir vor, du erklärst einem Laien vor Ort dein Promotionsthema.

Was sagst Du?

In meiner Arbeit geht es um die sogenannte spätrömische Terra Nigra, die in Nordwestdeutschland und den Niederlanden schwerpunktmäßig verbreitet ist. Es handelt sich hierbei um Keramik, die auf der Drehscheibe hergestellt wurde und sich durch eine sehr gute Tonqualität und dunkle Oberflächen auszeichnet. In erster Linie werden in dieser Warenart sogenannte Fußschalen hergestellt, die vermutlich als Trinkgefäße genutzt wurden. Diese Terra Nigra datiert überwiegend in das 4. und 5. Jh. n. Chr. und findet sich hauptsächlich in germanischen Siedlungen, wo sie einen starken Kontrast zu den handgemachten einheimischen Gefäßen bildet. In meinem Projekt gehe ich der Frage nach wo die Ursprünge dieser speziellen Keramik liegen. Genauer gesagt ob es sich um ein römisches Importgut speziell für die Germanen handelt oder ob eine einheimische, germanische Produktion existiert. Oder ist die Terra Nigra das Endprodukt einer Vermischung von römischen und germanischen Traditionen und Herstellungstechniken? Dabei ist die Frage nach der Lage der Töpfereien von großer Bedeutung.

2. Wie gehst du dabei vor?

Grundlegend für meine Arbeit war die Erstellung einer Datenbank, in der ich die Funde spätrömischer Terra Nigra aufgenommen habe um einen Überblick über die Verbreitung, das Formenspektrum und die Datierung der Ware zu erhalten. Ausgehend von dieser Datenbank habe ich mir drei Gebiete ausgesucht, in denen ich gezielt die Keramik ausgewählter Fundorte näher untersucht habe. Dazu gehört unter anderem das Zeichnen, Fotografieren und bestimmen der Keramik. Um der Frage nach der Lage der Töpfereien näher zu kommen, habe ich das Fundmaterial naturwissenschaftlich untersucht. Hierbei erhoffe ich mir durch die geochemische Zusammensetzung der Scherben wertvolle Hinweise zu erhalten. Den Großteil meiner Analysen habe ich dabei mit einem Gerät gemacht, das sehr stark an die Waffen aus Science-Fiction-Filmen erinnert….oder einen Föhn, wie einige Kollegen immer wieder feststellten.

3. Gab es Momente der Überraschung während deiner Forschung?

Im Verlaufe eines Projektes gibt es sehr viele positive und negative Momente und Situationen, die aber auch mehr oder minder bedeutend sein können. Meistens kann man dies einem Außenstehenden nur sehr schwer vermitteln, weil man zu sehr im eigenen Thema gefangen ist. Aber einer der schönsten Augenblicke war als ich meine erste Karte mit der Verbreitung der Fußschalen erstellen konnte. Das war eines der ersten greifbaren Ergebnisse der langwierigen Datenbankarbeit!

4. Welchen Einfluss auf die heutige Forschung erhoffst du dir von deinen Forschungsergebnissen?

Einfluss ist vielleicht zu hoch gegriffen, aber es wäre schön wenn Forscher anhand meiner Arbeit die spätrömische Terra Nigra besser bestimmen, einordnen und vor allem auch erkennen können. Damit wäre schon viel erreicht!

5. Wo siehst du dich in 10 Jahren?

Wo ich mich in 10 Jahren sehe, kann ich jetzt noch nicht sagen. Zu viele Wünsche oder Spekulationen über die eigene Zukunft führen meist zu nichts, da es sich meistens anders entwickelt als man es selbst geplant hat. Zumindest sollte ich bis dahin die Promotion abgeschlossen haben.

CLARISSA AGRICOLA studierte Archäologie und Geschichte der römischen Provinzen, Vor- und Frühgeschichte und Archäometrie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Keramikforschung sowie der Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden in der Archäologie. Im Rahmen ihres Promotionsprojektes im Graduiertenkolleg „Wert und Äquivalent“ beschäftigt sie sich seit 2013 sowohl mit geochemischen Analysen als auch mit der kulturhistorischen Deutung spätantiker Keramik in den Niederlanden und Nordwestdeutschland.

Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

Westküste der Türkei von Pergamon bis Knidos: Priene, Pergamon, Ephesos, Knidos

Menschen | Tun | Dinge Produktion und Gebrauch

Das Menschliche
in der Keramik —
Was verraten uns
Gefäße über ihre
Nutzer?

Was hat die hellenistische Keramik Westkleinasiens mit einer Zahnbürste zu tun? Wie bei dieser handelt es sich um Gebrauchsgegenstände, die erworben werden konnten und dann im alltäglichen Leben Verwendung fanden. Häufig war der Gebrauch vermutlich genauso intuitiv und unreflektiert wie unser Griff zur Zahnbürste. Trotzdem gab es mehrere Gründe, welche die Menschen in der Antike zum Kauf einer bestimmten Gefäßform anstelle einer anderen bewegt haben. Diesen Gründen versuche ich in meiner Dissertation auf den Grund zu gehen. Besonders anschaulich wird das in hellenistischer Zeit, also im 3. – 1. Jh. v. Chr., bei der Feinkeramik, das bedeutet bei Gefäßen, die in der Regel mit einem Überzug versehen waren und eher repräsentativen Zwecken dienten. Trotzdem verwendete man sie täglich.
Um das Phänomen im Hellenismus zu verstehen, hilft ein kurzer Blick zurück in die beiden vorangehenden Jahrhunderte: Bis in die erste Hälfte des 3. Jh. v. Chr. hatte die attische Feinkeramik im gesamten griechischen Mittelmeerraum eine Art Leitfunktion inne. Deswegen hat man sie importiert und nachgeahmt. Das Angebot an Gefäßformen war verhältnismäßig klein und der überwiegende Teil der Feinkeramik zeichnete sich durch einen glänzenden schwarzen Überzug aus. Dieses Bild änderte sich im Laufe des 3. Jh. v. Chr. Die vielen Töpferwerkstätten in Kleinasien entwickelten nun eigene Formen und neben den schwarzen Glanzton traten diverse weitere Verzierungen. Auch eine rote oder braune Färbung des Überzugs und mehrfarbige Gefäße wurden jetzt möglich. Dadurch stiegen natürlich die Auswahlmöglichkeiten für die einzelnen Käufer. Den Kaufvorgang selbst und die Beweggründe, die zu einer Kaufentscheidung geführt haben, kann man nicht mehr nachvollziehen, da Gespräche mit den Menschen dieser Zeit nicht mehr möglich sind. Auch Schriftquellen, die uns Hinweise auf konkrete Kaufvorgänge oder gar so etwas wie Werbung (so es das in der Antike überhaupt gab) geben, fehlen. Man muss sich also auf die erhaltenen Keramikscherben und ihre Vergesellschaftung an verschiedenen Orten konzentrieren. Um das zu verstehen, stellen wir uns zunächst einen durchschnittlichen Geschirrschrank heutiger Zeit vor: Man findet dort verschiedene Gefäße für den täglichen Gebrauch – Teller, Gläser, Tassen, Schüsseln etc. –, die entweder als Set gekauft wurden oder sich im Laufe der Zeit angesammelt haben. Aber selbst im Schrank der Person, die ihr Geschirr gezielt zusammengestellt hat, werden sich Stücke finden, die dieses Bild stören: zum Beispiel das (hässliche) Kaffeeservice, das Oma zur Hochzeit schenkte, oder die Tasse, die aus dem letzten Urlaub stammt. Dieses Beispiel zeigt uns zum einen, dass viele verschiedene Wege zur Zusammensetzung eines Keramikensembles führen. Zum anderen ist in dieser Zusammensetzung eine Vielzahl an Informationen gespeichert, die vor allem für den Archäologen von großem Wert sind. Keramik reagiert schnell auf verschiedene Moden und ist dadurch eines der besten Hilfsmittel zur Datierung von Gebäuden u. ä. Mit den neueren naturwissenschaftlichen Methoden lässt sich nachvollziehen, wo sie hergestellt und wohin sie gehandelt wurde. Wir erfahren auch, was man damals gegessen und getrunken hat. Vor allem sind wir aber in unserem täglichen Leben von Keramik umgeben. Hier kommt der Geschirrschrank wieder ins Spiel: Die Keramik speichert auch Informationen über die immateriellen Wertvorstellungen ihres Nutzers.
Wie gewinnt man nun Einblick in die mit der antiken Keramik verbundenen Werte? Dafür gibt es verschiedene Methoden. An erster Stelle steht der großflächige Vergleich von Keramikensembles. Da die meisten Funde antiker Keramik aus Fundamentierungen und Verfüllungen stammen, ist es in der Regel nicht mehr möglich, einen Geschirrschrank zu rekonstruieren. Der ursprüngliche Verwendungszweck der Gefäße ist für uns verloren, ebenso die Information, welche Gefäße man gemeinsam verwendet hat. Man kann lediglich erkennen, welche Gefäße die Bürger einer Stadt etwa zeitgleich verwendeten. Der Begriff ‚zeitgleich‘ ist dabei aber dehnbar, da wir die Datierung der einzelnen Gefäße auf höchstens 50, teilweise nur auf 100 Jahre genau einschätzen können. Des Weiteren geben die Fundumstände nur selten Hinweise darauf, ob es sich um sogenannte Altstücke handelt oder die entsprechenden Formen tatsächlich noch aktiv in Verwendung waren. Nichtsdestotrotz macht die Beobachtung der erhaltenen Keramik in einzelnen Städten an der Westküste Kleinasiens deutlich, dass es regionale und lokale Unterschiede gab. Dabei ist auch die Infrastruktur wichtig. Hierzu zählen Handelswege und -beziehungen sowie die Fähigkeit, bestimmte Gefäße selbst zu produzieren. Musste man importieren, weil man nicht über die entsprechenden handwerklichen Fähigkeiten oder Rohstoffe verfügte, um die gewünschte Keramik selbst herzustellen?
Daneben spiegeln die Zusammensetzungen des Keramikspektrums verschiedener Orte auch lokale bzw. regionale Gebräuche wider. Zum Beispiel der sogenannte Fischteller: Seine spezifische Form mit einer Vertiefung in der Mitte, vielleicht für eine Soße, und einer nach unten hängenden Lippe zeigt, dass er zum Genuss einer ganz bestimmten Speise diente. Seine Bezeichnung als Fischteller verdankt er den Fischen, die in klassischer Zeit um die Vertiefung herum dargestellt waren. Vielleicht nutzte man ihn tatsächlich zum Verzehr derselben. In der Vertiefung könnte dann eine Soße serviert worden sein. Interessanterweise wird er in Athen im 2. Jh. v. Chr. sehr selten, wogegen er an verschiedenen Orten Kleinasiens populär bleibt. Veränderte sich in Athen die Zubereitungsart von Fisch, während man in Kleinasien an der traditionellen Weise festhielt? Oder übernahmen in Athen andere Gefäße die Funktion des Fischtellers? Diese Gründe für die Zusammensetzung eines Keramikspektrums sind für den Archäologen noch relativ gut zu greifen. Anders sieht das bei den immateriellen Werten aus. Nicht zu vernachlässigen ist die Entscheidung für die Verwendung eines Stückes aufgrund ästhetischer Gesichtspunkte, also weil man Gefallen daran gefunden hat. Das ist heute leider nur noch schwer nachvollziehbar. Man kann aber zumindest beobachten, dass die schwarzen Gefäße im 3. Jh. von roten, braunen und mehrfarbigen immer weiter zurückgedrängt wurden. Auch die neu aufkommenden Dekorvarianten setzten sich nicht an allen Orten in gleicher Weise durch. Als Beispiel kann der vermutlich aus Athen stammende Westabhang-Dekor dienen, bei dem die Gefäße mit kleinen gemalten Mustern verziert wurden. Später kamen auch geritzte Linien hinzu. Während diese Dekorform in Ephesos sehr beliebt war und in Pergamon sogar weiterentwickelt wurde, ist sie in Priene eher selten. Dagegen findet man in Priene sehr feine Gefäße mit einem Reifendekor, die man bisher sonst nur aus Rhodos und Knidos kennt. All diese Unterschiede haben aber keinerlei Einfluss auf die Funktion der einzelnen Gefäße. Fassen wir hier also vielleicht so etwas wie Geschmack?
Wichtig sind außerdem Werte, die durch die Herkunft eines Gefäßes entstehen. In der Spätklassik waren zum Beispiel aus Athen importierte Gefäße besonders wertvoll, weshalb sie sogar imitiert wurden. Auch die Herkunft eines Vorbildes konnte eine Rolle spielen. Die im Hellenistischen so beliebte Becherform ist von achämenidischen Formen abgeleitet. Hängt ihre Beliebtheit vielleicht mit der hellenistischen Hofkultur zusammen? Auch wenn diese immateriellen Werte für die Archäologen zu großen Teilen verborgen bleiben, gewinnt man durch eine genaue Beobachtung der Keramik doch zumindest eine Idee davon, wie sie ausgesehen haben könnten. Hilfreich ist dabei die Auswertung von Schriftquellen, die für den Hellenismus aber leider nur punktuell vorhanden sind. Ihre Bedeutung für die Sicherung der durch die Keramik gewonnenen Erkenntnisse zeigt ein Beispiel aus Ephesos. Die Wertschätzung schwarzer Glanztonkeramik wurde hier schon mehrfach hervorgehoben. Die Forschung bringt diese mit der Herkunft aus Athen in Verbindung. Dass dies auch für die spätklassische Zeit galt, zeigt uns eine Inschrift aus dem Artemision in Ephesos, in der Folgendes festgehalten ist: „Für die Athener Kittos und Bakchios, die Kinder des Bakchios, nachdem sie der Polis versprochen haben, die schwarze Keramik herzustellen und für die Göttin die Hydria, wobei sie das im Gesetz festgelegte Entgelt erhalten. […] Sie sollen Bürger sein, wenn sie in der Polis bleiben und das ausführen, was sie dem Rat versprochen haben. […]“ Das Interesse an der attischen Keramik war also so groß, dass man für ihre Herstellung sogar attische Töpfer nach Ephesos holte und sie mit dem ephesischen Bürgerrecht belohnte.
Weitere Hinweise zur Verwendung verschiedener Gefäße erhalten wir von Darstellungen. Diese sind im Hellenismus aber deutlich seltener als in klassischer Zeit. Regelmäßig finden sich Darstellungen von Gelageszenen bei den sogenannten Totenmahlreliefs. Dabei handelt es sich um Grabsteine oder –stelen, die den Toten auf einer Kline liegend zeigen. Er hat ein Trinkgefäß in der Hand, weitere Gefäße können auf dem Boden stehen oder werden von anderen Personen gehalten. Diese Steine zeigen aber kein alltägliches Symposion, sondern eine religiös überhöhte Darstellung. Trotzdem ist es auffällig, dass auf ihnen außer den Trinkschalen alle hellenistischen Trinkgefäße vertreten sind. Lässt sich daraus eine geringere Wertschätzung der Schale ableiten? Es hat zumindest den Anschein, als würden diese Gelageszenen eine Hierarchisierung der Trinkgefäße widerspiegeln.
Ergänzt werden die Erkenntnisse aus Keramik, Schrift- und Bildquellen durch Beobachtungen zu Gefäßen aus anderen Materialien wie Metall oder Glas. Diese wurden in der Keramik imitiert oder zumindest stilistische Elemente nachgeahmt. Ein Beispiel für eine direkte Imitation sind etwa die sogenannten achämenidischen Becher, die unmittelbar auf Vorbilder aus Silber zurückgehen. Vor allem bei den Gefäßen aus schwarzem Glanzton war es auch beliebt, durch einzelne Elemente wie z. B. besonders scharfe Umbrüche an Metallgefäße zu erinnern. Auch in der Antike muss diese Beziehung klar gewesen sein, so dass diese Gefäße vielleicht einen höheren Wert hatten als andere Formen.
Nimmt man all diese Quellen zusammen, erhält man ein relativ dichtes Bild von den antiken Wertvorstellungen zu hellenistischer Keramik. Somit kann man sich auch den Kaufentscheidungen bzw. den Gründen für die Verwendung eines bestimmten Gefäßes annähern. Eine Untersuchung der Keramik nach solchen Fragestellungen macht sie also zu einem wertvollen, wenn nicht sogar dem wertvollsten, Informanten über das antike Alltagsleben und die damalige Gedankenwelt. Wir bekommen nicht mehr nur Zugang zum Leben der Eliten, sondern erhalten Einblick in das alltägliche Handeln des kleinen Mannes von nebenan.


LITERATUR:

Kratzlmüller, B./E. Trinkl 2005: Von Athleten und Töpfern – ephesischen Bürgern auf der Spur. In: B. Brandt/V. Gassner/S. Ladstätter (Hrsg.), Synergia. Festschrift für Friedrich Krinzinger. Wien: Phoibos, 157-67.
 
Mitsopoulos-Leon, V. 1991: Keramik hellenistischer und römischer Zeit, FiE IX/2/2. Wien: Schindler.
 
Rotroff, S. I. 1997: Hellenistic Pottery. Athenian and Imported Wheelmade Table Ware and Related Material, Agora 29. Princeton: American School of Classical Studies at Athens.

Schäfer, J. 1986: Hellenistische Keramik aus Pergamon, PF 2. Berlin: Walter De Gruyter & Co.

Was sagt Ihr Geschirrschrank wohl über Sie aus?

In einem modernen Geschirrschrank finden sich verschiedene Arten von Tassen. Sie erfüllen unterschiedliche Funktionen, haben aber auch aus verschiedenen Gründen einen bestimmten Wert. Alle Tassen zusammen liefern wichtige Informationen über ihren Besitzer und seinen kulturellen Hintergrund.
Sammlertasse, Bayreuther Bavaria

Achämenidischer Silberbecher mit in Gold applizierten militärischen Darstellungen aus der Türkei, 5.–4. Jh. v. Chr.

British Museum, Inv. 134740

Diese Becher aus Silber oder Gold waren die Vorbilder für die im Hellenismus so weit verbreiteten Becher aus Keramik. Der figürliche Dekor dieses Bechers erinnert an die im 3. Jh. v. Chr. aufkommenden Megarischen Becher, die zunächst ornamental, später aber auch figürlich verziert sein konnten. Im Gegensatz zu den griechischen Keramikbechern stammen diese Metallvorbilder aber aus dem achämenidischen Reich. Die Achämeniden herrschten vor dem Eroberungszug Alexanders des Großen über Kleinasien.
© The Trustees of the British Museum. All rights reserved.

Fragment eines sog. achämenidischen Bechers, 3./2. Jh. v. Chr. aus Priene (Türkei)

Depot Priene

Diese Becher ahmen eine Form von Metallgefäßen nach, die typisch für das achämenidische Reich war. Die Verknüpfung dieser Form mit den Persern muss auch in der Antike schon offensichtlich gewesen sein. Man muss sich deshalb fragen, welche Werte mit der Imitation dieser eindeutig fremden Form verbunden waren. Diese Frage wird umso brisanter, wenn man sich bewusst macht, dass das Verhältnis zwischen Griechen und Persern nicht immer das Beste war. Trotzdem erfreuten sich diese Trinkgefäße im hellenistischen Griechenland einer gewissen Beliebtheit.
Foto: Laura Picht

Fragment eines Hellenistischen Trinkgefäßes mit Westabhangdekor aus Priene (Türkei)

Depot Priene

Die Verzierung von Gefäßen mit gemalten Ornamenten und geritzten Linien wird in der Forschung als Westabhangdekor bezeichnet. Dieser Dekor entsteht im 3. Jh. v. Chr. in Athen und verbreitet sich von dort in die gesamte hellenistische Welt. Die anderen Produktionsorte kopieren ihn aber nicht nur, sondern verändern ihn nach ihren eigenen Vorstellungen. Gleichzeitig sind Gefäße mit solchen Verzierungen an anderen Orten gar nicht zu finden. Auch hier scheinen also die Ästhetik und der Geschmack eine Rolle zu spielen.

Foto: Birgitta Schödel, Goethe-Universität Frankfurt

Hellenistisches Totenmahlrelief aus Samos

Museum Pythagoreion

Solche sogenannten Totenmahlreliefs sind in hellenistischer Zeit als Grabsteine weit verbreitet. Sie liefern uns wichtige Informationen über die antiken Gelagesitten. Sie zeigen immer einen auf einer Liege gelagerten Mann mit einem Trinkgefäß in der Hand. Daneben können diverse weitere Figuren gezeigt werden, wie z. B. seine Ehefrau. Die Art und Weise, wie die Trinkgefäße gehalten werden, und auch die Art der Trinkgefäße, die überhaupt gezeigt werden, ermöglichen Rückschlüsse auf die Bewertung dieser Gefäße in der damaligen Zeit, aber auch ihre Verwendung. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass diese Darstellungen immer nur Idealvorstellungen wiedergeben und nicht zwingend ein genaues Abbild der Wirklichkeit.
Foto: DAI Athen, Ins. Neg. Samos 7034

Fragmentierter Becher in Feiner Reifenware aus Priene (Türkei), 3./2. Jh. v. Chr.

Depot Priene

Es handelt sich hierbei um eher flache Becher, die sich durch ihre dünne Wandung und den auffälligen streifigen Dekor auszeichnen. Bisher sind sie nur aus Priene, Knidos und Rhodos bekannt. Dieser Gefäßtyp war also scheinbar nicht sehr weit verbreitet. Vielleicht war er ein Ausdruck eines bestimmten, regional begrenzten ästhetischen Empfindens? Dafür spricht, dass der sonst weitverbreitete Westabhangdekor in Priene eher selten ist, sich diese Becher dort aber häufiger finden.
Foto: Birgitta Schödel, Goethe-Universität Frankfurt

Schematisches Schaubild zur Darstellung möglicher Gründe für das Zustandekommen eines Keramikensembles

Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, wie unterschiedliche Gefäße z. B. in einen Geschirrschrank gelangen können. Dieses Schaubild soll einige der Möglichkeiten aufzeigen, die von einer Erbschaft über Geschenke bis hin zum Kauf reichen können. Das Zustandekommen der verschiedenen Keramikensembles, die uns bei Ausgrabungen begegnen, zu verstehen und zu erklären, ist eine der großen Herausforderungen für die Archäologen.
Schaubild: Laura Picht

Hellenistischer Silberbecher aus Derveni

Thessaloniki, Archäologisches Museum

Diese Becherformen konnten aus Silber oder Gold bestehen und waren die typischen Gefäße des Persischen Reiches. Wie man an diesem Fund aus einem Grab in Derveni sehen kann wurden sie aber auch in Griechenland hergestellt. Vielleicht hängt die Übernahme dieser typisch persischen Formen in das griechische Gefäßspektrum mit dem Aufkommen der hellenistischen Hofkultur zusammen. Neben wenigen Beispielen aus Metall sind aus Griechenland vor allem auch Nachahmungen aus Ton bekannt.

P. Themeles - G. Touratsoglou, Oi Taphoi tou Derveniou, Athen 1997, 65-66, pin. 8. 65.D Grammenos (epim.), O Chrysos ton Makedonon, Thessaloniki 2007, 222, ar. 2e. E. Zimi, Late classical and Hellenistic silver plate from Macedonia, Oxford 2011, 238, no. 99. © Hellenic Ministry of Culture, Education and Religious Affairs / Archaeological Receipts Fund.

Attischer Megarischer Becher, 2. Hälfte 3. Jh. v. Chr.

Originalsammlung Archäologisches Institut Universität Frankfurt, Abteilung Klassische Archäologie

Die neue Form der Becher wurde erst im 3. Jh. v. Chr. in das griechische Keramikspektrum übernommen. Ihre Vorbilder stammen vermutlich aus dem Persischen Reich. Man versuchte mit diesen Bechern Metallgefäße nachzuahmen. Sie sind also ein Beispiel für den neuen Geschmack der hellenistischen Zeit. Gleichzeitig hatten die metallischen Vorbilder auch einen Einfluss auf den Wert dieser Gefäße. Aufgrund des Fehlens von Henkeln kann man außerdem sicher sein, dass mit dieser neuen Form auch neue Trinksitten aufkamen. 

CVA 66 (4) Inv. 135. Foto: Birgitta Schödel, Goethe-Universität Frankfurt

Fragmentierter hellenistischer Fischteller aus Priene (Türkei)

Depot Priene

Diese Teller verdanken ihre Bezeichnung als Fischteller ihren klassischen Vorgängern, die auf der Innenseite mit mehreren Fischen verziert waren. Sie stehen für eine ganz bestimmte Form der Nahrungszubereitung. Vermutlich diente der Napf in der Mitte dem Servieren eines Dips oder einer Sauce. Während diese Teller in Athen im 2. Jh. v. Chr. selten werden, sind sie an verschiedenen Orten in Kleinasien weiter vertreten. Es handelt sich also um eine Form, die uns Informationen über den Wandel von bestimmten Sitten und Traditionen liefern kann.
Foto: Birgitta Schödel, Goethe-Universität Frankfurt

Menschen | Tun | Dinge Produktion und Gebrauch

Interview Laura Picht

1. Stell dir vor, du erklärst einem Laien vor Ort dein Promotionsthema.

Was sagst Du?

Stellen Sie sich einmal Ihren Geschirrschrank vor und dann den Ihrer Freunde und Verwandten. Sie werden eine große Vielfalt an unterschiedlichen Gefäßen verschiedenster Farben und Formen vorfinden. Ein ähnliches Bild ergeben auch die „Geschirrschränke“ der Antike. Man kann aber davon ausgehen, dass diese Zusammenstellung – damals wie heute – nicht zufällig entstanden ist. In meiner Promotion spielt vor allem die Entstehung dieser Zusammenstellungen eine Rolle. Es geht also um die Frage nach den Gründen ein bestimmtes Gefäß zu kaufen bzw. zu benutzen. Die Antworten sind dabei sowohl im Bereich infrastruktureller Bedingungen zu suchen als auch im Bereich eher subjektiver Gründe wie z. B. der materielle oder immaterielle Wert bestimmter Gefäße. Immaterielle Werte können zum Beispiel Erinnerungen sein, die man mit einem Gefäß verknüpft oder eine besondere Herkunft.

2. Wie gehst du dabei vor?

Zunächst untersuche ich anhand von Publikationen die Zusammensetzung der keramischen Funde einzelner Städte. Das heißt ich schau mir genau an, welche Formen wo vorkommen und wie sie an den jeweiligen Orten aussehen. Im Wesentlichen besteht meine Arbeit dabei im Durchblättern von Büchern und Vergleichen von Abbildungen und Sammeln von Beispielen. Diese Beispiele pflege ich in eine Datenbank ein, die inzwischen aus mehreren 1000 Einträgen besteht. Diese werden dann statistisch ausgewertet. Dabei geht es sowohl um das Erkennen regionaler Unterschiede, als auch von Verschiebungen im Laufe der Zeit. Die beobachteten Unterschiede und Gemeinsamkeiten ermöglichen es dann nach Gründen für dieses Bild zu suchen. Dazu werde ich nach Schrift- und Bildquellen suchen, die uns Zugang zu den Sichtweisen der damaligen Zeit bieten. Darüber hinaus kann die Untersuchung der politischen Hintergründe, sowie der durch Straßen und Schiffswracks überlieferten Handelswege Antworten liefern. Neben diesen mehr oder minder „harten“ Fakten gilt es, anhand von theoretischen Überlegungen Modelle zu entwickeln, welche die Charakteristika im Keramikspektrum der einzelnen Orte erklären.

3. Gab es Momente der Überraschung während deiner Forschung?

Ja, leider eine Negative. Die in den Publikationen verwendeten Typologien sind doch sehr viel unterschiedlicher als ursprünglich befürchtet. Das macht das Arbeiten mit den Publikationen und vor allem den Vergleich untereinander teilweise sehr schwierig. Dass es viele verschiedene Typologien gibt wusste ich durch die Arbeit an meiner Magisterarbeit auch schon vorher. Wie schwierig jedoch das übergreifende Forschen dadurch wird, das wurde mir erst im Laufe meiner Promotion bewusst.

4. Welchen Einfluss auf die heutige Forschung erhoffst du dir von deinen Forschungsergebnissen?

Ich hoffe, durch ein Zusammenführen der verschiedenen Typologien die Arbeit damit für zukünftige Forscher zu erleichtern. Außerdem möchte ich zeigen, dass man mit Keramik sehr viel mehr Erkenntnisse gewinnen kann, als nur die Datierung von Bauwerken. Selbst mit kleinen Fragmenten kann man wirtschaftliche Fragen stellen, welche die Produktion der Keramik betreffen sowie den Handel mit Rohstoffen und fertigen Gefäßen. Auch die Weitergabe von Wissen über weite Gebiete lässt sich dadurch nachvollziehen. Aber auch kulturhistorische Untersuchungen sind anhand von Keramik möglich. Man kann zum Beispiel anhand der Verwendung von Gefäßen bestimmte Sitten und Traditionen nachweisen und sehen, wie diese sich verändert haben. Deswegen möchte ich mit meiner Arbeit die Keramik etwas weiter aus dem Schatten der großen Kunst hervorholen und als Medium, um den „kleinen Mann“ fassen zu können, weiter in das Bewusstsein der Forschung rücken.

5. Wo siehst du dich in 10 Jahren?

Hoffentlich immer noch in der Forschung, aber auch in der Vermittlung neuer archäologischer Erkenntnisse. Leider gehört dazu aufgrund der eher schlechten Stellensituation auch eine ganze Menge Glück.

LAURA PICHT studierte Klassische und Vorderasiatische Archäologie sowie Archäologie und Geschichte der römischen Provinzen. Seit der Magisterarbeit liegt ihr Forschungsschwerpunkt im Bereich der Keramik, vor allem hellenistischer Zeit. Neben den allgegenwärtigen Datierungsfragen, beschäftigt sie sich vor allem mit kulturhistorischen und gesellschaftlichen Fragestellungen. Die langjährige Teilnahme an Grabungen in Priene weckte ihr Interesse für den kleinasiatischen Raum und die dort an den Funden und Befunden zu beobachtenden Kulturkontakte. Die in den laufenden Forschungen gewonnenen Erkenntnisse vermittelt sie im Rahmen von Vorträgen und Führungen im Archäologischen Museum Frankfurt an ein interessiertes Publikum. Sie promoviert im Graduiertenkolleg „Wert und Äquivalent“ zum Thema: „Untersuchungen zu antiken  Wertkategorien hellenistischer Keramik anhand des Vergleichs regionaler  Entwicklungen in Kleinasien“.

Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

Rom

Menschen | Tun | Dinge Produktion und Gebrauch

Second Life —
Umarbeitung und
Wiederverwendung
römischer Porträts

Wie viele Bilder existieren von Ihnen? Mindestens doch eines, in Ihrem Personalausweis oder Pass. Durch gerade Kopfhaltung und zurückhaltende Mimik will man Sie von anderen Menschen unterscheiden, mit Ihrem Namen sogar möglichst eindeutig identifizieren können. Ein Ruhmesmal sind diese Fotos meist nicht und in der Regel gehören sie auch nicht zu jenen Bildern, mit denen man sich im Internet unter Freunden und Bekannten gern in Szene setzt. Doch der Kreis der Betrachter ist eingeschränkt und so fristen diese ‚Gegengesichter‘ unseres bürgerlichen Alltags ein verborgenes Leben in unseren Brieftaschen.
Das römische Porträt entspricht unserem Ausweis in vielerlei Hinsicht. In strenger Frontalität oder leicht aus der Achse gedreht blicken sie uns entgegen. Bei näherer Betrachtung lösen sich Falten und Furchen in den Gesichtern in ein System unabhängiger Formeln auf, die Tugenden und Zeitgeschmack transportieren, wahres Alter und Gemütszustände jedoch nicht. Individuelle physiognomische Details erscheinen wie Verwerfungen im Gestaltungskonzept römischer Porträts. Eine prägnante Nase, ein markantes Kinn oder ein zu enges Zusammenspiel von Augenbraue und Augenlid dienen der Erkennbarkeit des Dargestellten.
Durch die Übernahme der Gestaltung von Haar- und Barttracht, mimischen Zügen oder Kopfwendungen ist dem regierenden Kaiserhaus jedoch teils in solchem Maß nachgeeifert worden, dass später nicht immer klar war, ob man es mit einem Claudius, Septimius Severus oder einem unbekannten Zeitgenossen zu tun hatte. Bei diesem als ‚Zeitgesicht‘ bekannten Phänomen ist zu klären, was die Angleichung im Einzelfall bedeutet haben mag. Sicher ist, dass in städtischen domus und ländlichen Villen das aktuelle Kaiserporträt wie auch das Bildnis des Hausherrn einen gesicherten Platz hatten. Dabei ging es um die eindeutige Identifizierung einer Person. Auf der Standfläche oder dem Büstenfuß wurden daher die Namen der Dargestellten angebracht. Ehrenmonumente erhielten zum Teil umfangreiche Inschriften, doch über die Jahrhunderte kam es zu Trennungen von Inschrift und Bildnis und so sind in den Museen viele tausende Porträts namenlos überliefert. Vergleiche mit Münzbildern ermöglichten zwar die Identifizierung vieler kaiserlicher Porträttypen, doch es gibt einige hundert Einzelstücke, die keine Persönlichkeiten des Herrscherhauses wiedergeben. Ihre Namensbeischriften weisen sie als Senatoren, Sklaven oder Freigelassene aus.

„Ich kaufte diese Büste, so wie sie war...“

 Zu den ‚Privatporträts‘ zählt das Bildnis eines Lehrers namens P. Magnius Victor. Als Graf Franz I. zu Erbach- Erbach dieses erstaunlich gut erhaltene Stück Ende des 18. Jahrhunderts bei dem Kunsthändler Thomas Jenkins in Rom erworben hatte, fügte er es seinem handschriftlich geführten Katalog hinzu. Die Büste in ihrer damaligen Form ist uns heute einzig durch diese Zeichnung überliefert, denn in einer Notiz des Grafen lesen wir, dass der mit geringen Restaurierungen beauftragte Bildhauer „…auf den unverzeihlichen Gedanken…“ gekommen war „…den Sockel, auf dem die Inschrift stand, abzuschlagen…“. Er war Abbé Visconti gefolgt, der die Auffassung vertrat, man habe sich schon in der Antike eines Porträts des Kaisers Marc Aurel bemächtigt, um es in das Bildnis eines weniger prominenten Römers umzuarbeiten. Dieser Fehlschluss beruhte auf der ‚primitiven’ Form des Sockels und der Angleichung an den Antoninen. Wer heute nach Erbach in das Schloss fährt und die Römischen Zimmer besucht, wird das Bildnis unseres Lehrers auf einem klassizistischen Büstenfuß vorfinden, auf dessen Tabula Marc Aurel geschrieben steht.
Wie bei vielen Objekten können auch bei Porträts Inhalte durch den Kontext beeinflusst werden. Schon ein simples Umstellen im Raum genügt, um ein Bildnis mit neuer Bedeutung aufzuladen. Durch Umarbeitung einzelner Teile lässt sich ein radikaler Wechsel herbeiführen. Im Fall des Erbacher Porträts waren die Voraussetzungen so günstig, dass ein minimaler Eingriff eine große Veränderung bewirken konnte. Denn, so vermerkte der Graf, „Ich kaufte diese Büste, so wie sie war, [deren Gestalt] sich aber nun durch einen Zufall, der mich immer kränken wird, sehr verändert hat.“

spogliare, ausziehen, berauben

Der Begriff Spolie ist vor allem in der Architektur geläufig, doch er meint auch wiederverwendete Teile von Bildwerken. Giorgio Vasari prägte im 16. Jahrhundert die Vorstellung, dass der Einsatz von Spolien unter anderem dem Mangel an finanziellen Mitteln geschuldet sei. Diese Einschätzung wird heute nicht mehr geteilt, da viele Spolien sehr prominent platziert sind. Auch für Porträts ist die Verwendung von Teilen älterer Standbilder überliefert. Durch das Einsetzen von Köpfen waren nicht nur die Kosten geringer, vielmehr ermöglichte es, die Körper vorzuarbeiten und dann erst mit den Porträts und Inschriften zu versehen. Vollständige Ensembles sind aufgrund der leichten und bruchlosen Lösung des Verbunds nicht immer erhalten und es gibt Stücke, bei denen die Trennung mit Absicht vorgenommen worden ist. Eine Statue aus den Vatikanischen Museen in Rom überliefert eine solche Umnutzung eines ‚fremden‘ Körpers im Porträt des C. Caelius Saturninus Dogmatius. Stilistische Vergleiche mit anderen Togastatuen zeigen auf, dass der Körper in hadrianischer Zeit entstanden ist, während der Kopf und die Inschrift erst aus dem 4. Jh. n. Chr. stammen. Da Büsten und Statuenkörper einem Typenrepertoire folgten, waren Rückgriffe ohne Verunklarung der Komposition möglich. Bildniskopf und Inschrift sind daher von besonderer Wichtigkeit bei der Analyse römischer Porträts.

Aus Alt mach Neu

Doch kommen wir zurück zum Passfoto. Wird man Sie in 3000 Jahren noch auf diesem Bild betrachten können und sich fragen, wer Sie waren und wie das Porträt als Medium in vergangener Zeit funktioniert haben mag? Wohl kaum. Früher oder später landet Ihr Ausweis im Müll und geht vielleicht in den Recycling-Kreislauf ein. Material nach dem Erstgebrauch weiterhin als wertvoll einzustufen, halten wir nach Jahren entgegengesetzten Denkens für eine Errungenschaft unserer Zeit. Dabei ist uns natürlich bekannt, dass in der Antike Altmaterial wiederverwendet wurde. Bei bronzenen Bildwerken ließ sich ein erneuter Einsatz mit wenig substantiellem Verlust in die Tat umsetzen. Das Einschmelzen ermöglichte die Produktion neuer Bildwerke oder die Herstellung von (Gebrauchs-) Gegenständen. In der materiellen Hinterlassenschaft sind solche verlorenen Porträts durch die Nennung des Materials in den Inschriften sowie charakteristische Einlassspuren nachweisbar. Auch literarische Quellen zeugen von der Beliebtheit des Materials für Statuen und Büsten. Im Vergleich zu den erhaltenen Marmorporträts ist ihr Anteil jedoch verschwindend gering.

(Ver-)Putzen

Wenn Sie eine Zahnpasta verwenden, die besonders weiße Zähne verspricht, oder in Ihrem Haushalt Scheuermittel einsetzen, putzen Sie möglicherweise mit gemahlenem Marmor. Von den vielseitigen Einsatzmöglichkeiten kalkhaltiger Gesteine, vor allem nach dem Brennen bei hohen Temperaturen, berichten schon antike Autoren. Mit Wasser Gelöscht, zerfielen die Brocken in jenes Material, welches auch die Basis der berühmten Fresken in Pompeji bildet. Skulpturen eigneten sich ebenso wie Bodenbeläge und Architekturteile, um zu Kalk und Mörtel verarbeitet zu werden. Grabungen des 19. Jahrhunderts brachten in der Nähe des Tempels der Vesta in Rom Kalköfen zutage, in deren Nähe ein ganzer Haufen intakter und fragmentierter Standbilder der Vestalinnen angesammelt worden war. Guido Calza berichtete 1922, auch in Ostia seien bei einem Kalkofen Fragmente von Skulpturen in größerer Anzahl entdeckt worden. Darunter ein Kopf des Antoninus Pius und weitere Bruchstücke kaiserzeitlicher Porträts. Mindestens 19 solcher spätantik oder mittelalterlich zu datierenden Kalköfen sind allein auf dem Gebiet des antiken Ostia ergraben worden. In einem dieser Öfen fanden sich die Köpfe des Trajan und des Hadrian. Man hatte sie bereits zum Brand aufgeschichtet...

3D-Modell von Julian Lauth

Noch recht neu ist das Angebot, sich selbst in 3D vermessen und aus einem Kompositmaterial drucken zu lassen. Ein Bindemittel verklebt Gipspulver in der vorgegebenen Form. Aufgrund der geringen Materialkosten handelt es sich um ein klassisches Wegwerfprodukt. Römische rundplastische Porträts wurden hingegen aus hochwertigen Materialien gefertigt.
3D-Scan und Modell: Julian Lauth, University of Applied Sciences Frankfurt

Litfaßsäule auf dem Campus Westend

Bei Litfaßsäulen werden Plakate immer wieder übereinandergeklebt. Wie hier auf dem Campus zeigen sich durch Abrisse die unteren Schichten und die darauf enthaltenen Informationen kommen zu Tage. Bisweilen zeugen auch bei römischen Porträts  charakteristische Bearbeitungsspuren von späteren Umarbeitungen und den damit verbundenen Umnutzungen der Bildnisse. Die namengebenden Inschriften konnten ‚eradiert‘ und auf der gleichen Fläche neu gearbeitet werden. Häufig bleiben Spuren in Form von Linien oder Buchstabenresten der ersten Inschriftenfassung unter der neuen im Marmor sichtbar.
Foto: Jana Maidhof

Zeichnung des ursprünglichen Zustands des sogenannten Marc-Aurel

Ich kaufte diese Büste, so wie sie war, [deren Gestalt] sich aber nun durch einen Zufall, der mich immer kränken wird, sehr verändert hat.

Diese Notiz stammt aus dem handschriftlichen Katalog den der Graf Franz I. zu Erbach-Erbach zu seiner Sammlung verfasst hatte. Die Zeichnung zeigt den Zustand der Büste vor der Überarbeitung in einer Bildhauerwerkstatt in Rom. Solche "Restaurierungen" waren im 17. und 18. Jahrhundert üblich. In diesem Fall war allerdings nur an eine geringfügige Instandsetzung gedacht worden, nicht an die erfolgte Trennung des Bildnisses von deren im Original erhaltenen Sockel nebst Inschrift: P. Magnius Victor, Magister (Lehrer).

Franz I. von Erbach-Erbach, Beschreibung meiner Wohnzimmer (handschriftl. Katalog 1808), Schloss Erbach im Odenwald. Umzeichnung: Martina Miocevic

Einlassung für einen Einsatzkopf

Die Abbildung zeigt die Ausarbeitung an einer Togabüste, in die ein getrennt gearbeiteter Kopf eingelassen werden konnte. Der untere Abschluss des Halses wurde in der Regel konisch zugearbeitet und ebenso wie die Einlassöffnung an den unteren Flächen aufgerauht. Einlassköpfe lassen sich im Museum an dieser Art der Bearbeitung gut erkennen.
Foto: Annabel Bokern

Hermenschaft mit Einlassspuren einer bronzenen Büste

Bronzene Büsten waren häufig auf sogenannten Hermenschäften montiert. Diese haben eine pfeilerartige Form, auf deren Vorderseite die Inschrift eingearbeitet und in machen Fällen ein Phallus fixiert war. In den Häusern von Pompeji und Herculaneum sind vor allem im Bereich der vorderen Räume (vor allem im Tablinum) solche Hermenschäfte erhalten. Sie stehen meist links und rechts der Durchgänge vor einer Wandfläche und können aus farbigem Marmor gearbeitet sein. Bei dem hier gezeigten Beispiel handelt es sich um einen durch seine charakteristische Äderung gut zu erkennenden Cipollini-Marmor (Zwiebelmarmor), in den eine flächige, aufgerauhte Vertiefung gearbeitet und der in der hohl gegossenen Büste stabilisierende Halsstumpf gut zu erkennen sind.
Foto: Annabel Bokern, Pompeji

Ein ‚so genannter‘ Marc Aurel

Ende des 18. Jhs. erwarb Graf Franz I. zu Erbach-Erbach in Rom eine bemerkenswert gut erhaltene Büste, deren Inschrift den Dargestellten als Lehrer überlieferte. Der nur mit geringfügigen Restaurierungen beauftragte Bildhauer kam nun auf einen „unverzeihlichen Gedanken“ und erneuerte den Sockel. Denn M. Publius Victor habe ein Porträt des Kaisers zu seinem eigenen umarbeiten lassen. Dieser Fehlschluss beruhte auf der ‚primitiven‘ Form des Sockels, aber auch der von römischen Privatporträts bekannten Angleichung an das Kaiserhaus. Wer heute in Erbach das Schloss besucht, findet den Lehrer dort mit einem klassizistischen Sockel, auf dem ‚Marc Aurel‘ zu lesen ist.
Schloss Erbach im Odenwald, Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen. Foto: Michael C. Bender.
Menschen | Tun | Dinge Produktion und Gebrauch

Interview Annabel Bokern

Stell dir vor, du erklärst einem Laien vor Ort dein Promotionsthema.

Was sagst Du?

Bei meinem Thema müsste man zunächst überlegen, wer das vor Ort sein könnte. Es dreht sich dabei um römische Porträts, die in der Regel im Museum stehen. Das heißt, ich bin da eigentlich immer ziemlich alleine. Wenn ich bei einer Führung zum Beispiel Porträts vermitteln möchte, dann fange ich zuerst damit an, zu erklären, was diese Bildnisse heute bedeuten; dass das Portrait an sich eines der wichtigsten Medien in der Antike gewesen ist, aber eben auch noch heute. Was wir im Museum sehen, ist vergleichbar mit einem Plakat von Angela Merkel oder einer modernen spanischen Geldmünze, auf der der König abgebildet ist. Dann muss ich auch darauf hinweisen, dass die Kaiser, die derjenige dann meist gerade betrachtet, nicht in mein Promotionsthema hinein gehören. Über die römischen Kaiser forsche ich nicht. Wir haben heute, wenn wir über römische Porträts nachdenken, immer die kaiserliche Familie vor unserem inneren Auge und auch die Geschichte dahinter. Man weiß, was sie an guten und schlechten Dingen getan haben sollen. Also ein Nero zum Beispiel hat natürlich Rom abgebrannt. Das hat sofort jeder im Kopf. Ich erforsche aber die Porträts, bei denen wir zwar historische Persönlichkeiten sehen, die wir aber nicht immer in Gänze greifen können. Das heißt, es sind eigentlich die normalen Bürger. Es sind Senatoren, es sind hohe Würdenträger, es sind aber auch Porträts von ehemaligen Sklaven, die sich als Freigelassene am Grab zeigen. Also einfach Bilder von Menschen, die in der römischen Kaiserzeit gelebt haben und sich das entweder leisten konnten oder einen wohlgesonnenen Stifter hatten. Davon haben wir Tausende, von denen wir zum größten Teil nicht wissen, wer es war. Da schaue ich mir nur die an, die eine Inschrift haben, irgendeinen Kontext, auf dem ich aufbauen kann. Wenn man im Museum steht und all das einem Laien erklärt, hat man in der Regel ein Highlight und das ist immer der Kaiser und daneben steht ein nicht weiter hervorgehobener Kopf und auch nicht immer schön und das ist dann mein Stück.

Wie gehst du dabei vor?

Zunächst habe ich das getan, was so mancher Archäologe als sein Steckenpferd empfinden wird. Ich habe ganz viel gesammelt. Ich schreibe eine sogenannte Bibliotheksarbeit, weil die Porträts, die ich bearbeite, zum Teil schon sehr lang bekannt sind. Man hat sie häufig schon im 17./18. Jahrhundert gekauft und in die eigene Sammlung gestellt. Auf verschlungenen Wegen gelangten die Stücke schließlich in Museen oder die Sammlung selbst ist zu einem solchen geworden. Das heißt, ich habe erst einmal monatelang in der Bibliothek gesessen und Bücher durchgesucht. Die zunehmende Bereitstellung von Texten und Daten im Internet erleichtert das natürlich in machen Fall erheblich. Und dann habe ich mir angeschaut, was davon lesbar ist. Also wie viel Informationen tragen diese Stücke tatsächlich in sich. Welche Bestandteile haben sie. Gibt es eine Inschrift, gibt es vielleicht noch Informationen wo sie standen oder wie sie standen, wie der Betrachter die Stücke gesehen haben mag. Handelt es sich vielleicht um eine Ehrung anlässlich des Baus eines Gebäudes. So etwas gibt es ganz häufig. Oder standen sie auf einer Platzanlage, standen sie drinnen, standen sie draußen. Solche Dinge. Das schaue ich mir an und suche alle Informationen zusammen, die ich finden kann. Und dafür fahre ich auch viel rum, in Sammlung, in denen die Stücke ausgestellt sind.

Gab es Momente der Überraschung während deiner Forschung?

Ich habe über die Frage tatsächlich ziemlich lange nachgedacht. Es ist so, dass, wenn man bei solchen Forschungen viel mit Menschen zu tun hat, wenn man auf Grabung ist oder in fremden Ländern unterwegs und dort, sagen wir mal, sich abenteuerlich durch den Dschungel schlägt, dann hat man vielleicht häufiger sehr spannende Erlebnisse. Wenn man immer in diesem geschützten Raum im Museum steht, ist das eher selten der Fall. Alles ist sehr aufgeräumt und da steht dann eben das Stück. Also insofern ist da sicherlich nicht so viel Überraschendes dabei. Was ich immer wieder fassungslos macht, das sind die Rekonstruktionen. In den Sammlungen begegnen uns so viele weiße Köpfe. Wenn der Besucher durchläuft, schaut er aber auf diese ganzen blinden Augen, in denen kaum Binnenstruktur ist, manchmal noch nicht einmal eine Ritzung, gar nichts. Auch in der Forschung schauen wir stark auf die Formen und die Kontur und die Profile und die Binnenstrukturen. Doch dann muss man plötzlich irgendwie verstehen, dass eventuell ganz viele Informationen komplett fehlen, weil die Farbe nicht da ist. Das war sicherlich eine Erkenntnis, die ich als nicht so angenehm empfunden habe, weil man auf den Stücken, heute nur noch wenig Farbe nachweisen kann. Sie sind einfach sehr stark gereinigt und viele auch mit Säure behandelt worden. Und zurück zu kommen zum Urzustand ist nahezu unmöglich. Das ist so etwas, eine Ungewissheit, die ist sehr unangenehm. Haben die Dinge, die man meint herausgefunden zu haben, so überhaupt noch Bestand? Wenn man in einer Sammlung um die Ecke biegt und zwischen den marmornen Köpfen steht so ein kräftig farbiges Stück, kann man das gut finden, aber auch nicht. Bei Führungen im Liebieghaus erkläre ich den Besuchern dann oft, dass eine Rekonstruktion zunächst einmal die nachweisbaren Pigmente und Farbspuren visualisiert. Wenn man das nicht schön findet, ist das eher eine Frage des ästhetischen Empfindens, hat aber mit dem Erkenntnisgewinn an diesem Punkt nicht viel zu tun. Aber im Museum gibt es auch besondere Momente. Zum Beispiel in den Vatikanischen Museen. Man ist in dem Moment Besucher, Betrachter, Gast und Forscher. Im Vatikan muss man sich dann dem Fluss der Besucher widersetzen. Man kommt hinein und wird einen festen Parcour entlang geschleust. Man wird aufgesogen in eine Masse, die schwerfällig und gleichzeitig unaufhaltsam durch das Haus zieht. Man kann sich auch dem Tempo überhaupt nicht erwehren. Und gerade bei solchen Objekten wie meinen Porträts, da steht dann da mal ein Kopf und da mal ein Kopf und manchmal gibt es eine ganze Galerie, da freut man sich das die alle auf einem Fleck sind. Aber man wird so weiter getragen und muss dann aufpassen, dass man an den eigenen Stücken nicht einfach vorbeigeschleust wird. Und witzig wird es, wenn man zu fotografieren anfängt. Ich fotografiere nicht immer en face, weil das die Fotos sind, die sowieso in den Büchern abgedruckt werden. Für mich ist es interessanter, zu sehen, wo die Stücke unten enden, wie sieht die Rückseite aus, sind da Brüche, hat man vielleicht die einen Kopf an eine fremde Büste gesetzt und sind das vielleicht sogar verschiedene Marmorsorten. Also ich muss mich an die Stücke einfach viel stärker annähern und in dem Moment, in dem ich das tue und dann noch dazu Detailfotos mache, bin ich nicht mehr alleine. In dem Moment stehen plötzlich zwei, drei, vier Leute um mich herum und versuchen dieselben Stellen zu fotografieren. Und das ist teilweise wirklich urkomisch, weil es eben die sonst für den Besucher eher unbedeutenden Stücke sind. Es ist eben nicht der Kaiser, es ist dann irgendeine Grabfigur mit schütterem Haar und man fragt sich dann immer, was machen die Leute bloß später mit diesen Fotos? Aber wenn Porträts als Galerie aufgestellt sind, dann sind meist gar keine Besucher da. Weil nur Köpfe findet heute fast keiner mehr spannend.

Welchen Einfluss auf die heutige Forschung erhoffst du dir von deinen Forschungsergebnissen?

Ich erhoffe mir, dass man mit dem, was ich erarbeite, vielleicht etwas zur Untersuchung der historischen und soziopolitischen Zusammenhänge hinzufügen kann. In dieser Art ist schon viel auf der Grundlage von Inschriften gearbeitet worden: welchen Status haben die Personen, wie dürfen sie sich darstellen, wo konnten die Bildnisse aufgestellt werden? Ich möchte aber auch mehr über die Wahrnehmung der Stücke herausfinden. Nicht nur auf die Antike bezogen, sondern auch danach und bis heute. Doch da ist Vorsicht geboten, weil man natürlich nicht spekulativ sondern befundorientiert arbeitet. Das heißt, man kann über vieles nachdenken, aber ob das dann Bestand als Ergebnis hat, ist eine völlig andere Frage. Wenn ich in diesem Bereich etwas beitragen kann, freue ich mich.

Wo siehst du dich in 10 Jahren?

Nicht mehr hier. Soweit kann ich es beantworten. Als Koordinatorin des Kollegs ist mit März 2019 eine strikte Frist gesetzt. Da es in der Wissenschaft so ist, dass eine Befristung häufig nicht in die Nächste überleitet, sondern das einfach auch harte Grenzen setzt, ist es nicht selbstverständlich, dass man an dem Ort, an dem man einmal arbeitet, weiter arbeitet. Also Mobilität ist eine Grundvoraussetzung. Und für mich stellt sich natürlich die Frage, möchte ich das was ich wissenschaftlich tue weiterverfolgen? Oder möchte ich das, was ich im Wissenschaftsmanagement tue weiterverfolgen? Und ich vermute, es wird das Management, aber hoffe, dass der Schritt ins Museum doch noch möglich wird.

 

ANNABEL BOKERN studierte Klassische Archäologie und Kunstgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihr Schwerpunkt liegt im Bereich der antiken Porträtforschung, wobei insbesondere die Gestaltung und die daraus abzuleitende Wirkmacht als Kommunikationsmedium im Innen- und Außenraum ihr Forschungsinteresse prägen. Das römische Imperium ab der Kaiserzeit bis in die Spätantike steht im Fokus ihrer Arbeit, das Nachleben von der Antike über die Neuzeit bis heute bildet
jedoch immer wieder einen untrennbaren Teil der Geschichten ihrer Forschungsobjekte. Sie ist in der Lehre am Institut für Klassische Archäologie tätig, Kunstvermittlerin in der Liebieghaus Skulpturensammlung in Frankfurt und seit 2010 die wissenschaftliche Koordinatorin des Graduiertenkollegs „Wert und Äquivalent“.

Menschen | Tun | Dinge

Tradition und Wandel

Als Tradition gilt allgemein, was unverändert über Raum und Zeit weitergegeben oder überliefert wurde. Wandel und Tradition scheinen sich auszuschließen. Doch wie viel Altes braucht es, und welches Maß an Neuem ist erlaubt?
Menschen | Tun | Dinge Tradition und Wandel

Tradition und
Wandel —
Zwei Seiten
einer Medaille?

Wie erkennt man, dass Halloween näher rückt? Kürbislaternen – sie grinsen uns im Supermarkt, in der Fußgängerzone und aus dem Vorgarten des Nachbarn entgegen. Selbst wenn man keine Ahnung hat, was Halloween eigentlich bedeutet, versteht jeder den Kürbis als Symbol für dieses Fest. In den USA gehört Halloween seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu den beliebtesten Festen überhaupt. Europäer kennen den Brauch aus Hollywoodfilmen und Fernsehserien: Jung und Alt, Arm und Reich dekorieren ihre Häuser mit Plastikskeletten, Spinnweben und Grabsteinen aus Pappe. Wenn die Dämmerung einsetzt, ziehen schaurig verkleidete Kinder von Haus zu Haus und drohen: „Süßes oder Saures!“ Wer dann keine Süßigkeiten zur Hand hat, muss mit kindlicher Vergeltung rechnen.

Uralte Tradition oder moderner Hype?

Die Kürbislaternen sind wesentlicher Bestandteil dieser Halloweentradition. Man höhlt Kürbisse aus, schnitzt gruselige Gesichter hinein und erleuchtet sie von innen mit flackerndem Kerzenschein. Die fertigen Laternen bevölkern dann Fenster und Vorgärten. Im Laufe der Zeit wurde das Motiv der Kürbislaterne zudem auf andere Medien und Materialien übertragen. Selbst schnitzen muss man heute nicht mehr. Stattdessen kauft man vorgefertigte Kürbislaternen aus Plastik oder Keramik, hängt sich Halloween- Lichterketten in die Fenster und verteilt Ekel-Süßigkeiten aus der Halloween-Mischung des nächsten Supermarkts. Obwohl Halloween hierzulande weitbekannt ist, genießt das Fest bei uns keine vergleichbare Popularität. Die Art und Weise, wie Halloween hier begangen wird, hat mit den Bildern aus Hollywood wenig gemein. Zwar findet man ein umfangreiches Sortiment an Halloween-Artikeln, das Straßenbild bleibt jedoch nahezu unverändert. Nur vereinzelt sieht man verkleidete Kinder. Haustüren bleiben ungeschmückt. Die meisten Menschen glauben, dass sich Halloween von Amerika aus nach Europa verbreitet hat. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt: Es handelt sich um den Reimport eines tief in der frühen Geschichte der Alten Welt verankerten Brauchs. Im Gepäck europäischer Auswanderer fand es seinen Weg in die Neue Welt. Sucht man nach den Wurzeln, stößt man auf ein Geflecht von Elementen und Einflüssen, die bis zu den Kelten und noch weiter in die Vergangenheit zurückreichen. Die Kürbislaternen entstammen dem westeuropäischen Brauchtum des 19. Jahrhunderts. Ihre Herstellung geht auf die Legende vom irischen Taugenichts Jack Oldfield zurück, der zu Lebzeiten den Teufel überlistete. Aufgrund seiner Missetaten erhielt er weder Eintritt in den Himmel noch in die Hölle. Gefangen in der Finsternis der Zwischenwelt, schenkte ihm der mitleidige Teufel eine Rübe sowie eine glühende Kohle, die ihm als Licht im Dunkeln dienen sollte. Daher nutzte man in Europa zunächst Rüben als Material für die Laternen. Erst in der Neuen Welt fanden die dort heimischen Kürbisse Verwendung. Das Motiv des ‚Licht im Dunkeln‘ findet sich auch in den christlichen Kirchenfesten Allerheiligen und Allerseelen wieder, bei dem Lichter für die Seelen der Verstorbenen entzündet werden.

Weder Henne noch Ei

Halloween ist also nicht rein amerikanisch, sondern ein wahres Potpourri verschiedener Elemente aus unterschiedlichen Kontexten und Kulturen. Es ist eine Tradition, die sich aus dem Aneignen, Zusammenfügen, Neuordnen und Wiederaufgeben kultureller Praktiken und Glaubensinhalte gebildet hat. Und diese Tradition ist immer noch im Wandel! Kann Halloween dann überhaupt als ‚eine‘ Tradition verstanden werden? Beziehungsweise, was ist eigentlich eine ‚Tradition‘? Als ‚Tradition‘ gilt allgemein, was unverändert aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart und von Ort zu Ort ‚tradiert‘, d.h. weitergegeben oder überliefert, wurde. Der Begriff des ‚Wandels‘ scheint zunächst im absoluten Gegensatz zum Begriff der ‚Tradition‘ zu stehen. Doch wie viel Altes braucht es und welches Maß an Neuem ist erlaubt, um trotzdem als Tradition zu bestehen? Traditionen haben ihren Ursprung im Dunkel der Vergangenheit. Wie sie entstanden, ist oft in Vergessenheit geraten. Trotzdem sind sie nicht zeitlos. Und wie alles Existierende sind sie der ständigen Veränderung unterworfen. Das Fratzengesicht der Kürbislaterne erkennen wir heute ganz selbstverständlich als Merkmal der Halloween-Tradition. Doch werden spätere Generationen dies noch genauso sehen? Oder wird sich die ‚Tradition‘ durch Übernahme, Ablehnung oder Vermischung einander fremder Verhaltensweisen, Ideen, Wertvorstellungen, durch neu hinzu kommende Stile, Formen, Materialien und Techniken geändert haben? In der Archäologie und Ethnologie finden sich zahlreiche Beispiele, die auf solche Prozesse des Wandels hindeuten. Forschungen in ganz unterschiedlichen Fallstudien mit je anderem empirischen Material sind Grundlage der vier hier vorgestellten Promotionsprojekte. Sie verbindet das Anliegen, mehr Licht in das Dunkel um die Frage nach „Tradition und Wandel“ zu bringen.

Zeig was du hast, dann weiß man wer du bist

Lukas Wiggering verfolgt den Austausch von materiellen und immateriellen Gütern in der europäischen Bronzezeit. Dieser Austausch stellt nicht nur eine Abkehr vom Alten, sondern gleichzeitig die Aneignung von Neuem dar. Dem Material Bronze kommt dabei eine mehr als nur namensgebende Rolle zu. Mit seiner Verbreitung gingen umfassende gesellschaftliche Veränderungen einher: Eliten bildeten sich heraus, die mit Hilfe des glänzenden Metalls ihre gesellschaftliche Stellung begründeten und ihr Ausdruck verliehen. Angetrieben vom Streben nach Geltung, intensivierten sich die Kontakte zwischen den Regionen Europas, oft über weite Entfernungen hinweg. Lukas Wiggering untersucht, inwiefern sich dabei Wertvorstellungen und Traditionen zwischen den betreffenden Räumen bewegten und wie mit fremden Einflüssen umgegangen wurde. Ging mit dem Austausch von Bronzeobjekten ein Bedeutungswandel einher? Für die Beantwortung dieser Frage werden Artefakte der Früh- und Mittelbronzezeit untersucht. Im besonderen Fokus stehen scheinbar fremde Objekte, die als Träger neuer Werte und Traditionen gesehen werden können.

Mediterrane Lebensart an germanischen Ufern

Thomas Hahn befasst sich mit dem Aufeinandertreffen gallischer und römischer Keramiktraditionen am Rhein in der Zeit um Christi Geburt. Mit dem Tross römischer Legionäre gelangten neue mediterrane Keramikwaren an den Rhein. Durch typologische, technologische und farbliche Unterschiede bildete die römische Keramik einen deutlichen Kontrast zu den Waren der lokalen Bevölkerung. Die römische Feinkeramik, allen voran die sogenannte Terra Sigillata, übte starken Einfluss auf die lokalen Töpfertraditionen aus. Dabei beließen es die gallischen Töpfer nicht bei einer bloßen Übernahme des Neuen. Angeregt durch Form, Qualität und Farbigkeit der fremdem Gefäße, begannen sie mit der Produktion einer völlig neuartigen Keramik: der sogenannten Belgischen Ware. Diese vermischt gallische mit römischen Formen, Farben und Techniken. Ähnlich wie im Fall der Halloween-Laterne stellt sich die Frage: Ist die belgische Ware nun eine römische, gallische oder gallorömische Keramikart?

Schalen aus Schildpatt oder Dosen aus Plastik – was hat mehr Wert?

Von den Ufern des Rheins geht es auf die pazifische Inselgruppe Palau. Constanze Dupont untersucht die Integration ‚fremder‘ Objekte im traditionellen Gabentausch der Bewohner dieser Inseln. Auf Palau zirkulieren seit Jahrhunderten Objekte als Handels-, Tributs- und Heiratsgaben. Diese Tauschzyklen sind Ausdruck komplexer sozialer Praktiken, die das Leben der Menschen dort von der Geburt bis zum Tod begleiten. Die Gaben bestehen traditionell aus Perlen unterschiedlicher Form und Farbe, kleinen Schalen aus den Panzern von Karettschildkröten sowie Nahrungsmitteln. Durch gewandelte Lebensgewohnheiten, westlichen Einfluss, ökonomische Erwägungen und Konsumdenken haben sich die Bräuche und Sitten innerhalb der Tauschzyklen verändert. Bislang fremde Gegenstände, wie zum Beispiel Baumwolltücher, Waschmittel und Geschirr, gelangten durch europäische Entdecker, Walfänger, spanische und deutsche Kolonisatoren und Missionare auf die Inseln. Diese Waren wurden in die tradierten Tauschzyklen integriert; zudem wurden ihnen neue Werte zugeschrieben. Diese Gaben passen sich den Anforderungen der Gegenwart an. So findet man heute neben den althergebrachten Gaben auch Tupperware und den US-Dollar. Ein forschender Blick auf die Geschichte der Tauschzyklen soll klären, welchen der heute beim Gabentausch verwendeten Objekten tatsächlich eine lange Tradition zukommt.

Ein brodelnder Kessel aus alten und neuen Zutaten

Sebastian Schellhaas begibt sich in andere Welten – in die der Küchen und des Geschmacks. Denn auch hier stößt man auf Fragen nach Tradition und Wandel. Er schaut in die Kochtöpfe der indigenen Bevölkerung British Columbias an der kanadischen Nordwestküste. Dort standen traditionell salz- und gewürzarme Gerichte auf dem Speiseplan, die praktisch keinen Zucker kannten und durch die Verarbeitung von primär wilden Nahrungsmitteln sowie ein außergewöhnlich hohes Maß an tierischen Proteinen charakterisiert waren. Seit der Einführung von Kartoffeln, Weizenmehl, Zucker und anderen Lebensmitteln aus der Alten Welt im späten 18. Jahrhundert veränderte sich die Ernährung drastisch. Vor diesem Hintergrund hat sich in den letzten Jahrzenten eine kleine Gruppe von indigenen Köchen herausgebildet, die sich dem progressiven Projekt einer „First Nation Haute Cuisine“ verschrieben haben. Sebastian Schellhaas schaut sich deren kulinarischen Kreationen an und fragt: Was passiert, wenn eine traditionelle Küche auf völlig neue Ressourcen und ungeahnte technische Möglichkeiten trifft? Wie können Speisen als ‚authentisch‘ oder ‚traditionell indianisch‘ bezeichnet werden, obwohl sie sich eklatant von dem unterscheiden, was man als traditionelle Küche der indigenen Bevölkerung British Columbias kennt?

Tradition und Wandel – liegen diese Begriffe wirklich so weit auseinander? Oder sind sie nicht vielmehr zwei Seiten einer Medaille? Altes weicht Neuem; Werte, Gesellschaft und Kultur sind ständig im Wandel. Die Übergänge sind fließend und im Licht der flackernden Kürbislaterne nicht immer leicht zu erkennen.

 

  — Constanze Dupont, Thomas Hahn, Sebastian Schellhaas und Lukas Wiggering

 

Menschen | Tun | Dinge Tradition und Wandel

Interview Constanze Dupont

Stell dir vor, du erklärst einem Laien vor Ort dein Promotionsthema.

Was sagst Du?

Naja, eigentlich gibt es keine Laien vor Ort. Vor Ort bin ich der Laie, da die Palauer zumeist besser über mein Promotionsthema Bescheid wissen, als ich selbst. Nehmen wir an, ich würde es Freunden erklären: Ich forsche auf Palau. Das ist eine Inselgruppe im Pazifik. Dort arbeite ich über das traditionelle einheimische Geld, welches in Form von Perlen und Schalen aus Schildpatt vorkommt. Diese Objekte werden bis heute in Tauschzyklen, zum Beispiel zur Geburt des ersten Kindes, Beerdigungen und wenn ein Chief ernannt wird, ausgegeben. Ich versuche den Gabentausch während dieser Tauschfeste zu beschreiben, wobei ich den Fokus auf das Perlengeld gelegt habe. Ich erfasse die Kategorien, die Wertzuschreibungen und Bedeutungen, den Gebrauch, die Herkunft, aber auch die heutigen Problematiken in Bezug auf eine anstehende Inflation. Des Weiteren vergleiche ich meine Beobachtungen mit den ethnographischen Aufzeichnungen der vergangenen 300 Jahre und verdeutliche die verschiedenen Einflüsse auf das lokale Geldsystem.

Wie gehst du dabei vor?

Es ist sehr viel Literaturarbeit. Ich wälze mich durch Kolonialberichte, ethnographische Werke, archäologische Aufzeichnungen, Theorien und Definitionen von Geld bis hin zu Sozialstudien. Ich versuche möglichst alles zu erfassen, was je über Palau geschrieben wurde. Dann kommt natürlich noch die Feldforschung hinzu. Auf Palau nehme ich an Tauschzyklen teil. Das heißt ich beobachte und dokumentiere sie. Ich versuche immer mitten im Geschehen zu sein und so viel zu lernen wie mir möglich ist. Dafür stelle ich viele Fragen. Einmal in Form von Interviews, aber auch bei jeder sich mir bietenden Gelegenheit. Ich mache mir Notizen, nehme Gespräche mit einem Diktiergerät auf, erstelle Fotos und sogar Filmsequenzen um Momente festzuhalten. Ich versuche am alltäglichen Leben auf den Inseln teilzunehmen.

Gab es Momente der Überraschung während deiner Forschung?

Ganz viele. Als Ethnologe sollte man gut vorbereite auf eine Feldforschung gehen. Am besten hat man schon Literatur gelesen, Fragen für die Interviews erstellt und Kontakte vor Ort geknüpft. Aber es gibt einfach immer wieder Situationen mit denen man nicht rechnet. Als ich das erste Mal nach Palau geflogen bin, war ich erschrocken von dem Anblick der sich mir bot. Überall lagen umgeknickte Palmen, Müll und Dreck. Erst am nächsten Tag habe ich erfahren, dass während ich auf meinen Anschlussflug nach Palau gewartet habe, ein Taifun über die Insel hinweg gefegt ist. Zum Glück war erst er und dann ich da. Ein weiterer Moment war, als ich zu meiner ersten Gastfamilie ziehen sollte. Ein Feiertag stand an und alle Hotels waren auf Palau ausgebucht. Als ich nun zu meiner Gastfamilie kam wurde mir deutlich gemacht, dass ich noch nicht einziehen könne und man setze mich unfreundlich vor die Tür. Ich habe verzweifelt versucht eine Unterkunft zu finden, aber alles war belegt. Ich war in diesem Moment richtig wütend. Ich habe eine Liste erstellt, wie viele Tage ich noch auf dieser Gott-verlassenen-Insel bleiben musste und wann ich endlich wieder nachhause konnte. Überraschenderweise habe ich in dieser Nacht ein freundliches Paar kennen gelernt, die mir Unterschlupf gewährt haben und ab diesem Tag ging es Bergauf. Ich habe eine andere Gastfamilie gefunden, die mich wie eine Tochter aufgenommen und mich in meinem Vorhaben unterstützt hat. Und am Ende wollte ich Palau gar nicht mehr verlassen. Eine Forschung steht und fällt eigentlich mit den Menschen, die einem begegnen und die man kennen lernt. Das sind zum Teil wunderschöne Momente.

Welchen Einfluss auf die heutige Forschung erhoffst du dir von deinen Forschungsergebnissen?

Mein Traum wäre, dass mein Name vielleicht in 100 Jahren in einem Atemzug mit den großen Palau-Forschern wie Augustin Krämer und Johann Kubary genannt wird. Aber für den Moment würde es mich glücklich machen, wenn ich die heutige Situation und Bedeutung des Gabentausches auf Palau festhalten kann. Ich möchte ein detailliertes Werk über das palauische Geld, seinen Umgang, seine Bedeutung und die heutigen Problematiken verfassen. Ich erhoffe mir, dass weitere Forscher diesen Prozess aufgreifen und ihn in verschiedene Richtungen weiter führen. Auf der anderen Seite erhoffe ich mir auch, dass ich den Palauer etwas damit zurück geben kann und sie vielleicht Erkenntnisse aus meiner Arbeit ziehen können oder sehen, wie eine Person von außen ihren Gabentausch beschreibt.

Wo siehst du dich in 10 Jahren?

In einer Hängematte unter Palmen. Eigentlich ist es mein Wunsch oder sogar mein Traum, nach der Dissertation eine Stelle als Kuratorin für eine Ozeanien Abteilung an einem ethnologischen Museum zu erhalten. Ich möchte gerne weiterhin als Ethnologin, mit Materieller Kultur und im Bereich pazifische Inselwelten arbeiten. Funktioniert das aber alles nicht, dann lege ich mich doch in die Hängematte am Meer.


CONSTANZE DUPONT  ist Promovierende am Institut für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt mit regionalen Schwerpunkten Ozeanien und Australien. Thematisch beschäftigt sie sich mit materieller Kultur, Museumsethnologie und Umweltanthropologie. Ihr Bachelorstudium der Vergleichenden Kultur- und Religionswissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung, Spanisch und Erziehungswissenschaften schloss sie an der Philipps-Universität in Marburg ab. Im Anschluss studierte sie Kultur- und Sozialanthropologie sowie Religionswissenschaften. Während ihres Studiums wirkte Constanze Dupont bereits an zahlreichen Ausstellungen mit.  Feldforschungserfahrungen sammelte sie 2009/2010 in Australien und 2013-2015 auf Palau. Sie kuratierte in der Marburger Völkerkundlichen Sammlung die Ausstellung „Mythen, Macht und Maskerade. Der geschmückte Mann in Neuguinea“, und publizierte ein Buch mit gleichem Titel. Derzeit verfasst sie im Graduiertenkolleg „Wert und Äquivalent“ ihre Dissertation zum Thema „Integration von Handelsgütern überseeischer Provenienz in matrimoniale Tauschzyklen“.

Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

Palau

Menschen | Tun | Dinge Tradition und Wandel

Perlen für Palau —
Wertobjekte in
Tauschzyklen auf
den paulauischen
Inseln

Auf den mikronesischen Inseln Palaus im Pazifik ist der Gaben-, Geld- und Nahrungstausch, der das Leben von der Geburt bis zum Tod begleitet, nach wie vor eine gelebte Tradition. Durch veränderte Lebensgewohnheiten, ökonomische Prioritäten und Konsumdenken haben sich diese Bräuche verändert und sind heute weitgehende an die Erfordernisse der Gegenwart angepasst worden. In den vergangenen 300 Jahren wirkten europäische Entdecker, Walfänger, westliche Händler, spanische und deutsche Kolonisatoren und Missionare auf die mikronesische Gesellschaft ein. Auch die Folgen des amerikanisch-japanischen Pazifikkrieges und die vier Jahrzehnte amerikanischer Verwaltung beeinflussten das Leben auf den Inseln. Dabei zeigten sich die Palauer weitgehend resistent und hielten an der traditionellen Struktur von Familie und Sozialgefüge fest. Eingeführte Produkte waren zwar sehr begehrt, konnten aber in die traditionellen Tauschsysteme integriert werden, ohne die eigentlichen Wert- und Tauschobjekte zu ersetzen oder zu verdrängen. Gerade diese Wertgegenstände haben noch heute neben dem Dollar ihren symbolischen Wert beibehalten. Auf Palau gibt es drei Formen von Wertgegenständen. Zum einen udoud er belau (palauisches Perlengeld), zum anderen den US-Dollar sowie toluk (Schildpattschalen). Udoud er belau ist bis heute Gegenstand von Tauschsystemen, die in ihrer Form einzigartig in der ganzen Welt sind. Meist in Kombination mit dem US-Dollar wird heute das palauische Geld für wichtige Ereignisse, wie die Feier zur Geburt des ersten Kindes, Beerdigungen, Eheschließungen, Ernennung eines neuen Titelträgers oder Scheidungen verwendet. Toluk, hergestellt aus dem Panzer der Karettschildkröte, werden im Rahmen von Tauschfesten als Entlohnung für Dienstleistungen und für die Nahrungszubereitung an Frauen gegeben. Auch dienen sie als Präsentierfläche für die Übergabe des palauischen Geldes beim Gabentausch. Obwohl Deutsche die Reichsmark, Japaner den Yen und Amerikaner den US-Dollar einführten, hat diese Tradition bis heute überlebt. Im täglichen Leben trägt eine Frau normalerweise ein einzelnes großes Stück des palauischen Geldes an einem einfachen schwarzen Band um den Hals. Dieses Geld gehört meist der Familie ihres Ehemannes und gilt als Zeichen für Wertschätzung der Ehefrau durch dessen Verwandte. Trägt eine werdende Mutter ein besonderes rundes Geldstück, so soll dieses das Kind und die Schwangerschaft beschützen sowie ihren Bauch rund werden lassen. Früher nur zu besonderen Anlässen, heute aber auch im Alltag sichtbar, tragen unverheiratete Frauen ganze Ketten mit Geldstücken, die zumeist ihrem ganzen Clan gehören. Über den Wert eines Stückes entscheidet nicht nur die Zuordnung zu einer der vielen Kategorien und Unterkategorien, sondern auch seine Vorgeschichte, die früheren Besitzer und der Umstand, durch welchen ein Geldstück in eine Familie gelangt ist.
Die Herkunft des udoud er belau ist bis heute umstritten. Bereits vor der europäischen Entdeckung segelten die Palauer in ihrem keap genannten, bis zu zehn Meter langen Auslegerkanus regelmäßig bis zu chinesischen Händlern auf den Philippinen, um ihnen bêche-de-mer zu bringen. Vermutlich erhielten sie als Gegengabe das palauische Perlengeld. Auf Palau hingegen gibt es viele Mythen, die die Ankunft oder den Fund des Geldes ganz anders beschreiben. So erzählt eine Mythe von der Insel Kayangel im Norden von Palau, auf der ein Mann namens Rdechor lebte: Rdechor wurde als bestes Oberhaupt, das die Insel je hatte, angesehen. Er war kein Mann, der alles für sich selbst haben wollte. Er sorgte für die Bedürfnisse seiner Leute, behandelte sie gut und respektierte ihr Eigentum. Eines Nachts fuhren Rdechor und sein Sohn auf das Meer hinaus zum Fischen. Als sie den Platz erreichten, von dem sie wussten, dass dort viele Fische waren, ließen sie ihren Anker in das tiefe blaue Wasser hinab. Sie warfen ihre Angeln aus, aber sie fingen keinen Fisch, so dass sie zu einem anderen Platz weiterruderten. Während sie paddelten, sah Rdechor in der Ferne eine seltsame, große und dunkle Gestalt. Er wunderte sich und rief seinem Sohn zu, der im vorderen Teil des Kanus saß: „Siehst du die große Gestalt dort? Es kann keine Insel sein, denn ich weiß, dass es hier keine Inseln gibt.“ Als sie sich der Gestalt näherten, sahen sie, dass es sich tatsächlich um eine Insel handelte. Um sicher zu gehen, befestigten sie ihr Kanu und entschlossen sich, bis zum Morgen zu bleiben. Während Rdechor schlief, ging sein Sohn von Bord, um die Insel zu erkunden, und fand viele Arten schöner Steine. Er begann mit den Steinen zu spielen und warf sie in Richtung Meer, aber sonderbarerweise kamen sie zur Insel zurück. Er versuchte es viele Male, und das gleiche geschah wieder und wieder. So ging er einen Korb holen, füllte ihn mit so vielen Steinen, wie der Korb fassen konnte, und brachte den Korb zum Kanu zurück. Als Rdechor und sein Sohn am nächsten Tag aufwachten, sahen sie, dass ihr Kanu abgetrieben und die Insel verschwunden war. „Wir müssen die Insel geträumt haben“, sagte er zu seinem Sohn. Aber sein Sohn zeigte ihm aufgeregt den Korb: „Schau, Vater, ich habe diese Steine auf der Insel gesammelt, so dass es Wirklichkeit gewesen sein muss.“ Als Rdechor in den Korb sah und die Steine untersuchte, fand er, dass sie sich von allen Steinen, die er gesehen hatte unterschieden und er erkannte, dass sie wertvoll waren und zu Geld werden könnten. Und so begann man palauisches Geld zu verwenden.
Erwähnung findet das palauische Geld das erste Mal in den  Aufzeichnungen von Kapitän Henry Wilson, welcher im August 1783 mit seinem Schiff Antelope in palauischen Gewässern Schiffsbruch erlitt.
In den letzten 30 Jahren wurden sogenannte new beads von den Philippinen und Indonesien nach Palau eingeführt. Auf den Philippinen und Indonesien wurden sie illegal aus Gräbern entwendet. Diese Gräber wurden auf 500 v. Chr. bis 1.500 n. Chr. datiert. Die gefundenen Perlen und Armreifen sind identisch mit dem palauischen Geld und ihr Ursprung wird nun auf diesen Inseln vermutet. In den frühen 90er Jahren reisten viele Palauer auf die Philippinen und nach Indonesien um dort nach dem palauischen Geld zu suchen. Durch die starke Nachfrage stieg der Preis bei den Antikhändlern höher als der für das in den Gräbern gefundene Gold oder Porzellan. Heute sieht man viele Frauen, die größere Geldstücke um den Hals tragen, als die traditionell größten und bekanntesten Stücke. Viele der kleineren new beads sind mittlerweile in Zirkulation und werden wissend und unwissend für custom verwendet. Viele Palauer glauben jedoch nicht, dass es sich bei den Geldstücken aus Indonesien und den Philippinen um identische Perlen und Armreifen handelt und bezeichnen sie daher als fake beads. Eine oft gehörte Theorie besagt, dass durch das Reiben an der Nase und das Fett der Haut das echte palauische Geld einen besonderen Glanz bekommt, hingegen fake beads grau und matt bleiben. Eine zweite Theorie besagt, dass die echten Stücke Fensterglas und Spiegel durchschneiden können, fake beads hingegen nicht. Zurzeit versucht die palauische Regierung ein Gesetz zur Registrierung aller palauischen Geldstücke zu erlassen. Es existiert jedoch keine Auflistung, wie viele Stücke traditionell auf den palauischen Inseln existierten. Gerade ältere Menschen, zeigen ihre Sammlungen nur ungern, da sie befürchten, dass andere Clans oder Familienangehörige erfahren könnte, welche und wie viel Stücke sich in ihrem Besitz befinden. Übergangsriten, das heißt Anlässe, bei denen von einem Lebensabschnitt in einen anderen gewechselt wird, bilden in Palau immer einen Grund zur Übergabe von Zahlungsmitteln und Gaben. Es entstand ein gegenseitiges Geben und Nehmen nach komplizierten festen Regeln, die bis heute gelten. Von der Lineage der Frau werden Nahrungspakete mit Fisch, Reis, Hühnchen, Schwein, Taro und Tapioka bereitgestellt. Die Verwandtschaft des Mannes überreicht als Gegengabe Stücke des palauischen Geldes, US-Dollar und einige toluks. So sagt man auf Palau auch, dass man sich glücklich schätzen kann, wenn man viele Töchter, Schwester und Nichten hat, da diese das Geld in die Familie bringen. Durch das Geben und Nehmen werden in palauischen Tauschzeremonien Beziehungen zwischen den Gruppen bestätigt oder neu geknüpft. 

3D-Scan

3D-Scan und Modell: Nico Serba, Frankfurt University of Applied Sciences

Essensgaben bei einem Tauschfest auf Palau

Die Essensgaben beinhalten meist Taro, Tapioka, Reis, Hühnchen und Fisch, aber auch Produkte wie Kekse, Softdrinks und Sushi werden heutzutage gerne gegeben.
Foto: Constanze Dupont 2014

Palauisches Perlengeld

Ältere und verheiratete Frauen tragen meist ein einzelnes großes Exemplar des palauischen Geldes um den Hals. Dieses gehört der Familie ihres Mannes und gilt als Wertschätzung der Ehefrau.

Foto: Constanze Dupont 2014

Antikhändler auf den Philippinen

Auf den Philippinen können identische Perlen für horrende Preise käuflich erworben werden. Dieses Foto zeigt das umfangreiche Sortiment eines Antikhändlers in Manila.

Foto: Constanze Dupont 2014

Essensgaben bei einem Tauschfest auf Palau

Bei den Tauschfesten auf Palau wird von der Familie des Mannes Geld gegeben. Die Familie der Frau reicht Essenpakete als Gegengabe dar.

Foto: Constanze Dupont 2014

Palauisches Perlengeld

Diese Palauerin trägt eine ganze Kette mit palauischem Geld, die als Iek bezeichnet wird. Eine derart große Anzahl an Perlengeld ist meist nicht nur Besitz einer Familie sondern eines ganzen Klans.
Foto: Constanze Dupont 2014

Geldgabe bei einem Tauschfest auf Palau

US-amerikanische Dollar und palauisches Geld werden auf einem Toluk, bedeckt mit einem Kebui-Pfefferblatt, dargereicht.
Foto: Constanze Dupont 2014

Betrachtung des palauischen Geldes

Besonders ältere Frauen begutachten die Geldgaben bei den Tauschfesten ganz genau. Manche Perlen erfordern einen „langen Blick“, wie man auf Palau sagt.

Foto: Constanze Dupont 2014

Iek – Kette aus palauischem Geld

Eine Kette mit Udoud er Belau auf einem Toluk. Nur wenige hochrangige Klans besitzen auf Palau so viele Stücke, um eine ganze Kette aus Geld aufzureihen. 
Foto: Constanze Dupont 2014

Kreislauf der Tauschfeste – Tod & Geburt

Die Geburt des ersten Kindes wird in Palau mit einem großen Tauschfest begangen. Die junge Mutter wird feierlich geschmückt und präsentiert sich dann den Verwandten ihres Ehemannes.

Foto: Constanze Dupont 2014

Making Money - Making Toluk

© Constanze Dupont 2014

Ochsenhautbarren, Felsbild aus Torsbo (Tafel Kville 156:1), Schweden, Mittelbronzezeit

Während der Bronzezeit entstanden in Skandinavien zahlreiche Felsbilder. Neben Darstellungen von Boten, Tieren und Menschen sind auf einer Hand voll Bildern auch kissenartige Objekte Abgebildet. Diese erinnern in ihrer Form an Ochsenhautbarren. Akturelle Untersuchungen von Kupferobjekten aus Skandinavien zeigen, dass für einige dieser Objekte Kupfer aus Zypern verwendet wurde. Dieses kam vermutlich in Form von Ochsenhautbarren in den Norden – und zusammen mit diesen auch immaterielle Werte und Ideen?
Foto: A. Mederos

Schematische Zeichnung eines Ochsenhautbarrens, 16.–12 Jahrhundert v.Chr.

Schon in  der Bronzezeit wurde Kupfer in Barren transportiert. Eine mögliche Form sind Ochsenhautbarren. Ihre Hauptverbreitung hatten sie im östlichen und zentralen Mittelmeer. Nördlich der Alpen sind bisher die Barrenbruchstücke aus Oberwilflingen (Baden-Württemberg) der einzige Nachweis für Kupferbarren dieses Typs. Charakteristisch ist, neben der an gegerbte Tierhäute erinnernde Form, die chemische  Zusammensetzung des Kupfers, die auf Lagerstätten auf Zypern verweist.
Zeichnung: Martina Miocevic

Materialaustausch zwischen Alpen und Skandinavien

Während der Bronzezeit versorgte allen voran Skandinavien weite Teile Europas mit dem begehrten Bernstein. Im Gegenzug dafür wurden große Mengen Kupfer aus den Alpen und der Iberischen Halbinsel nach Skandinavien transportiert. Zinn gelangte aus dem Erzgebirge aber auch von den Britischen Inseln in den Norden. Auch andere Rohstoffe, zum Beispiel Wolle oder Salz, und Artefakte bewegten sich auf diesen Routen. Zusammen mit Handelswaren und durch Händler wurden darüber hinaus auch Technologien, immaterielle Werte und Ideen ausgetauscht. Die Bereitschaft einzelner Regionen sich gegenüber diesen zu öffnen oder zu verschließen schwankt dabei stark.
Grafik: Martina Miocevic

Bernsteincollier, Hortfund aus Ingolstadt, ca. 1600–1500 v. Chr.

In der Bronzezeit Europas war Bernstein ein begehrtes Gut. Vor allem aus reichen Gräbern und Horten ist das wertvolle Material erhalten. Von den Britischen Inseln über Süddeutschland bis in die mykenischen Schachtgräber wurden Ketten aus dem goldgelben Stein von reichen Individuen getragen. Ebenso wie bei anderen Artefakten mit einer weiträumigen Verbreitung muss auch hier gefragt werden, ob zusammen mit Bernstein auch Wertvorstellungen und Ideen ausgetauscht wurden oder ob alleine die Seltenheit zu einer Begehrtheit geführt hat.
Foto: Stadtmuseum Ingolstadt

Fayenceperle, Grabhügel von Pörndorf (Bayern), 1600–1300 v. Chr.

Ähnlich den Glasperlen Dänemarks ist die Fayenceperle mit ursprünglich blauer Oberfläche aus einem Grabhügel in Pörndorf für Süddeutschland einzigartig und fremd. Das Material Fayence war bereits in der Frühbronzezeit bekannt und wurde im östlichen Mitteleuropa hergestellt. Jedoch kamen nur vereinzelt Perlen in Süddeutschland vor. Diese waren mit ihrer einfachen zylindrischen oder flachen Form deutlich simpler als das Pörndorfer Exemplar. Parallelen zu diesem finden sich im mykenisch beeinflussten Oberitalien und vor allem im mykenischen Griechenland. Zwar ist es durchaus möglich, dass zusammen mit der Perle auch fremde Werte nach Pörndorf und Süddeutschland gelangten. Wichtiger sind in diesem Fall jedoch der exotische Charakter und die Einzigartigkeit der Perle.
Archäologische Staatssammlung München. Foto: St. Friedrich

Glasperlen, Grabhügel in Humlum (Dänemark), 12. Jahrhundert v. Chr.

In einigen wenigen bronzezeitlichen Gräbern Skandinaviens finden sich blaue Glasperlen. Vor allem der Rohstoff Glas ist für die Nordische Bronzezeit selten und fremd. Eine regionale Herstellung von Glas konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Regelmäßig kommen Glasperlen vor allem im östlichen Mittelmeer und dem Vorderen Orient vor. Materialuntersuchungen der skandinavischen Glasperlen konnten zeigen, dass diese in ihrer chemischen Zusammensetzung den östlicheren Exemplaren entsprechen. Auf welchem Weg sie jedoch aus dem Vorderen Orient nach Dänemark gelangten, ist nicht eindeutig zu klären. Sicherlich stellten die Perlen jedoch Objekte von hohem Wert dar.
Foto: The National Museum of Denmark
Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

Oberwilflingen (Baden-Würtemberg) und Pörndorf (Bayern)

Menschen | Tun | Dinge Tradition und Wandel

‚Fremdes‘ Gut
in der Bronzezeit —
Wandel und Aufnahme
von Traditionen?!

Die heutige Gesellschaft ist durch stetig zunehmende Vernetzung und Austausch – oft über weite Räume hinweg – geprägt. Primär werden Rohstoffe und Handelswaren über große Distanzen vertrieben. Aber nicht nur materielle Güter sind Gegenstand des Austausches, auch Kultur und Traditionen bewegen sich zwischen den teilnehmenden Regionen. Dabei werden Elemente dieser angeeignet, zusammengefügt, neugeordnet oder aufgegeben. Ein anschauliches Beispiel hierfür sind Halloween und Kürbislaternen.
Der Austausch und die Aneignung von Traditionen und Werten sind keine Entwicklung der jüngeren Menschheitsgeschichte. Die Geschichte ist geprägt durch Austausch und Gegenseitige Beeinflussung. Spuren dieses Prozesses finden sich sowohl im materiellen Kulturgut als auch in menschlichen Handlungsweisen und den Vorstellungen der Menschen. Handlungen und Vorstellungen sind jedoch auf die Pflege, Ausübung und Wahrnehmung von Personen angewiesen, ohne die sie in Vergessenheit geraten und aussterben. Daher sind Sitten und Bräuche aus Sicht der Archäologie nur noch schwer zu erkennen und zu rekonstruieren.  Nur indirekt lassen sich Bräuche und Verhaltensweisen mit Hilfe materieller Überreste längst vergangener Kulturen nachvollziehen. Für die europäische Bronzezeit liefern vor allem Gräber und Hortfunde Einblicke in die soziale und kulturelle Welt der Menschen und ihre damit verbundenen Wertvorstellungen.
Die Bronzezeit, also das 2. Jahrtausend vor Christus, ist in weiten Teilen Europas durch das Aufkommen und die Ausbreitung eines neuen Werkstoffes geprägt: Bronze – härter und belastbarer als Stein oder Kupfer. Mit seinem goldähnlichen Glanz anziehend, geheimnisumwoben und nur mit speziellem Wissen zu gewinnen und zu verarbeiten. In der Bronzezeit Europas war das neue Metall ein Zeichen von Macht, Reichtum und Prestige – und wurde zum treibenden Motor einer ganzen Epoche, in der Europa näher zusammenrückte. Kupfer- und Zinnerze, durch deren Vermischen Bronze hergestellt wird, kamen schon immer nur in wenigen Regionen Europas vor. Kupfer war dabei das bei weitem zugänglichere Material. Zinn kam fast ausschließlich im südlichen England und im ostdeutsch-böhmischen Erzgebirge vor. Da jedoch Objekte aus Bronze zunehmend begehrter wurden, mussten diese Rohstoffe oder Bronze selbst oft über weitere Strecken transportiert werden. Beispielsweise fanden Fragmente von Ochsenhautbarren ihren Weg bis in den Hort von Oberwilflingen in Baden- Württemberg. Diese Barren in Form von Tierhäuten hatten ihre Hauptverbreitung im östlichen Mittelmeer sowie auf Sardinien und stammten überwiegend aus Kupferminen auf Zypern. Das Kupfer dieser Lagerstätten fand, wenn auch nur in geringem Maße, sogar in Skandinavien Verwendung. Der Abbau der Erze, deren Verarbeitung und der Austausch der gewonnenen Rohstoffe und Artefakte erforderte eine klare Organisation und Strukturierung, um zu funktionieren. Wer Kontrolle über die Gewinnung, Verarbeitung und den Austausch von Rohstoffen und Produkten hatte und an dem überregionalen Austausch teilnahm, konnte an Status und Prestige innerhalb seiner Gesellschaft gewinnen. Eine Aufgliederung und Schichtung der Gesellschaft war die Folge. Erstmals wurden ‚Eliten‘ innerhalb von Sozialgruppen sichtbar. Diese Eliten legten vermehrt Wert auf eine Darstellung ihrer Macht und Stellung sowie einer Abgrenzung gegenüber Anderen.
Nicht nur Bronze als Objekt der Begierde wurde in europaumspannenden Netzwerken zwischen den Eliten ausgetauscht. Auch andere Rohstoffe wie Salz, Stoffe oder Nahrung befanden sich im Umlauf, sind aber aufgrund ihrer leichteren Vergänglichkeit oft schwerer archäologisch zu fassen als Metall. Und nicht nur Rohstoffe bewegten sich über weite Strecken, auch fertige Objekte legten oftmals lange Strecken zurück. Handelte es sich in den frühen Phasen des Kontaktes anfänglich noch um echte Importe, kamen schnell lokal gefertigte Kopien und Interpretationen auf. Diese neuen Formen glichen der ursprünglichen Gestaltung zwar noch grundlegend, im Detail wichen sie jedoch deutlich von dieser ab. Lokale Zierelemente vereinten sich mit fremden Einflüssen zu neuen Varianten. Aber auch rein gestalterische Elemente wurden der Fremde entlehnt. Ähnlich den Schwertern fanden auch Ziermotive mit Ursprung im Karpatenbecken Anklang in Mitteleuropa und Skandinavien. Wie weiträumig Austausch vollzogen werden konnte, zeigt sich am Beispiel des Bernsteins. Die Quelle dieses besonderen Rohstoffes liegt vor allem im Norden Europas. Entlang der Küsten der Ostsee können nach Stürmen Brocken des begehrten Materials geborgen werden. Bereits vor der Bronzezeit wurde Bernstein als Schmuck verwendet, doch erst ab dem 2. Jahrtausend vor Christus verbreitete sich das versteinerte Harz mehr und mehr über Europa. Von den Britischen Inseln bis in die Levante, von Skandinavien bis ins pharaonische Ägypten lassen sich unbearbeitete Brocken und aufwändig gearbeitete Schmuckstücke finden.
Aber nicht nur der Rohstoff an sich ist weiträumig verbreitet. Von den Grabhügeln Englands und Süddeutschlands bis in die Gräber der mykenischen Paläste Griechenlands findet sich Bernstein in Form von aufwändig gearbeiteten Colliers als Beigabe für Verstorbene von Eliten. In allen Gebieten waren dabei Form und Fertigungsweise nahezu gleich. Der Halsschmuck setzte sich überwiegend aus zahlreichen kleinen Perlen zusammen, die auf mehrere Stränge aufgezogen waren. Unterbrochen wurden die Perlenschnüre durch sogenannte Bernsteinschieber, die als Abstandhalter zwischen den einzelnen Schnüren verwendet wurden und verhindern sollten, dass sich diese verhedderten. In ganz Europa stammt die überwiegende Zahl des Bernsteins aus reichen Gräbern und Horten. Er war den gesellschaftlichen Eliten vorbehalten und unterstrich deren Wohlstand und Macht. Die Begehrtheit von Bernstein lag neben dem begrenzten Zugang vor allem in seinen Eigenschaften, die als nahezu magisch gegolten haben könnten. Das fossile Harz erinnert an einen Stein, schwimmt jedoch auf Wasser, es ist brennbar und fühlt sich warm an. Zudem faszinieren seine warme goldgelbe Farbe und sein durchscheinender Glanz. Nicht ohne Grund wird Bernstein auch heute noch ‚Tränen der Götter‘ genannt. Auf die Menschen der Bronzezeit übte Bernstein sicherlich eine hohe Anziehungskraft aus.
Zusammen mit Bernsteinschmuck finden sich von Dänemark und Südschweden über Oberitalien bis nach Ägypten Perlen aus blauem Glas und Fayence. Das Wissen um die Geheimnisse der Herstellung dieser stammte ursprünglich aus dem Nahen Osten und Ägypten. Viele der in Skandinavien gefundenen Exemplare sind tatsächlich Importe, die ursprünglich im Osten gefertigt wurden und anschließend über verschiedene Stationen des Austausches nach Nordeuropa gelangten. Aber auch in Mittel- und Süddeutschland wurden Glas- und Fayenceperlen den Verstorbenen mit in das Grab gegeben, wobei sie wie auch in Südskandinavien seltene Objekte blieben. Die kleine blaue Perle aus Fayence aus dem Grab von Pörndorf unterstreicht aufgrund ihrer Form dabei nochmals die Fernbeziehungen des süddeutschen Raumes. In ihrer Form ist sie nördlich der Alpen nahezu einzigartig, jedoch finden sich vergleichbare Funde aus Oberitalien und aus Fundzusammenhängen der mykenischen Kultur. Das Aufeinandertreffen von meeresblauen Glasperlen und sonnengelbem Bernstein erfolgte vor allem ab der Mitte des 2. vorchristlichen Jahrtausends. Zuvor war Glas bzw. Fayence in Mitteleuropa kaum bekannt. Nur im Karpatenbecken und den angrenzenden mitteleuropäischen Gebieten lassen sich vereinzelt Exemplare nachweisen. Bernstein fand seinen Weg erst ab dem 17./16. Jahrhundert vor Christus bis in die Ägäis und das östliche Mittelmeer. Die Kombination von beiden Materialgruppen führte zu einer Vermischung von Werten und Traditionen. Glas und Bernstein waren sowohl Zeichen von Macht und Einfluss als auch Spiegel des bronzezeitlichen Weltbildes. Zusammen mit Zierelementen wie Kreis- und Wellenmustern auf Waffen und anderen Metallartefakten deuten sie auf eine mögliche Fokussierung auf Sonne und Wasser beziehungsweise das Meer in der Kosmologie der Bronzezeit hin. Gleichzeitig scheint jedoch zumindest Bernstein eine gewisse Form des Wandels hinsichtlich seiner genaueren Bedeutung erfahren zu haben. So unterschieden sich die rekonstruierbaren Tragweisen der Funde in England und Süddeutschland von denen aus den Gräbern der mykenischen Kultur Griechenlands. Bernstein und Glas sind nur Bespiele von Austausch, Wandel und Adaption von Werten und Traditionen in der Bronzezeit. Zusammen mit dem Austausch von Rohstoffen, fertigen Gegenständen und handwerklichen Errungenschaften erfolgte auch eine gesteigerte soziale Interaktion und gegenseitige Beeinflussung. Verschiedene Aspekte des sozialen Lebens, sei es die Art sich zu kleiden oder die Art der Beisetzung Verstorbener, waren davon betroffen. Europaweit entwickelte sich im Verlauf der Frühbronzezeit und mit dem Übergang zur Mittelbronzezeit ein gesteigertes Bewusstsein für das eigene Erscheinungsbild, den damit ausgedrückten Status und die eigene Identität. Vermehrt treten aufwändig gestaltete Schmuckelemente sowohl bei Frauen als auch Männern auf. In großen Teilen Europas setzt sich mit der Mittelbronzezeit unter Männern eine klare Selbstdarstellung als Krieger durch, die durch das Tragen von Schwertern ihren Status nach außen demonstrierten. Zum selben Zeitpunkt lässt sich ein weiträumiger Wandel in den Bestattungssitten feststellen. Verstorbene werden nun von ihren Hinterbliebenen unter aufwändig errichteten Grabhügeln mit oft reicher Beigabenausstattung bestattet.
Neben der Ausbreitung von Artefakttypen und Traditionen, die sich im archäologischen Fundgut als großräumige und gut etablierte Kulturelemente präsentieren, können Aufnahme, Wandlung und Vermischung von Traditionen durch einzelne ‚fremde‘ Objekte nachvollzogen werden. Dabei ist es wichtig herauszustellen, dass diese Objekte vor allem aus der heutigen Sicht als fremd in der materiellen Kultur einer Region gelten. Für die Menschen der Bronzezeit stellten sie eher eine Seltenheit als ein wirklich fremdes Objekt dar. Darüber hinaus wurden viele ‚fremde‘ Artefakte in ihrer Fundregion hergestellt oder in dieser überarbeitet. Es handelt sich somit um Nachahmungen von Objekten aus anderen Kulturregionen und nicht um direkte Importe aus diesen. Oftmals wurden sie aus lokalem Material gefertigt und zeigen in ihrer Form und Zier Elemente, die Vorlagen in regionalen Objekttraditionen hatten.
Grundlegend wird im Rahmen der vorgestellten Promotion die Frage nach dem Umgang mit fremden Einflüssen in Mitteleuropa, vor allem Süd- und Mitteldeutschland, während der frühen und mittleren Bronzezeit gestellt. Im Fokus stehen dabei vorrangig fremde Objekte, deren Vorbilder und Ursprünge außerhalb des Arbeitsgebietes liegen. Anhand dieser Artefakte wird untersucht, inwiefern mit fremden Einflüssen und Objekten und mit diesen einhergehenden Wertvorstellungen umgegangen wurde. Sowohl individuelle ‚fremde‘ Objekte als auch weiträumig verbreitete Objekte wie Dolche oder Schwerter werden dabei berücksichtigt und untersucht, um ein umfassendes Bild von Wandel und Kontinuität in bronzezeitlichen Traditionen und Werten zu gewinnen. Die kurz umrissene Frage von Tradition und Wandel in der europäischen Bronzezeit zeigt, wie vielschichtig der Umgang mit scheinbar fremden Objekten und deren Aufnahme und Integration in das eigene Kulturgut sein kann.


LITERATUR:

Ling, J./Z. Stos-Gale/K. Billström/E. Hjärthner-Holdar/ P.-O. Persson 2014: Moving metals II: provenancing Scandinavian Bronze Age artefacts by lead isotope and elemental analyses. Journal of Archaeological Science 41, 106-132.

Varberg, J./B. Gratuze/F. Kaul 2015: Between Egypt, Mesopotamia and Scandinavia: Late Bronze Age glass beads found in Denmark. Journal of Archaeological Science 54, 168-181.

Bernstein - Tränen der Götter

Durch seine goldene Farbe, die warme Oberfläche und die Transparenz übt Bernstein heute noch genau so wie in der Bronzezeit eine besondere Anziehungskraft aus. Gerade als Schmuck erfreut sich das fossile Harz besonderer Beliebtheit. Aber auch Mythen ranken sich um diesen Stein und immer wieder wurden ihm magische Eigenschaften sowie heilende Wirkung zugeschreiben. Für das bronzezeitliche Europa waren vor allem die Küsten der Ostsee Hauptquellen. Noch heute findet man nach Stürmen und rauer See Brocken des begehrten Gutes.
3D-Scan und Modell: Nico Serba, Frankfurt University of Applied Sciences
Menschen | Tun | Dinge Tradition und Wandel

Interview Lukas Wiggering

Stell dir vor, du erklärst einem Laien vor Ort dein Promotionsthema. Was sagst Du?

Das ist eine gute Frage. Ich versuche das mal einfach zu halten. Es geht im Prinzip darum, Austausch festzustellen beziehungsweise innerhalb dieses Austausches zwischen zwei Regionen herauszufinden, ob bestimmte Werte und Funktionen von Objekten übertragen, übernommen oder gewandelt wurden. Wenn man eine Analogie zu heute ziehen möchte, kann man sich das so vorstellen, dass zum Beispiel in der einen Stadt oder einem Land momentan eine bestimmte Schuhmarke angesagt ist. In ein anders Land oder eine andere Region „exportiert“ kann diese dann  mit der gleichen Bedeutung aufgenommen werden, zum Beispiel als Erkennungsmerkmal für bestimmte Gruppen - oder entsprechend von einer ganz anderen Gruppe aufgenommen werden, oder sie symbolisiert plötzlich was ganz anderes, drücken zum Beispiel aus, dass ich entsprechend Geld habe mir sie leisten zu können und dadurch Status darstellt. Oder die Marke ist vielleicht nur noch ein Sammelobjekt. Und diese Fragen untersuche ich für die Bronzezeit. Dabei gestaltet sich das Ganze etwas schwieriger. Vor allen Dingen sind uns Metall und Keramik erhalten geblieben und zudem auch weniger Alltagsfunde sondern vielmehr Grabfunde und Hortfunde, also größere Niederlegungen von wertvollen Objekten, erhalten sind. Und daran versuche ich die Übertragung von Werten, Bedeutungen und Funktion zu rekonstruieren. Die Untersuchungsregion meiner Dissertation ist vor allem Mitteleuropa, wobei der Fokus entsprechend auf Süddeutschland als Ausgangsgebiet liegt und die Nord-Süd-Richtung, also über die Alpen hinweg und weiter nach Skandinavien von Bedeutung ist. Zeitlich arbeite ich in der Bronzezeit, also im 2. Jahrtausend v. Chr., mit einem Fokus auf die frühe und mittlere Bronzezeit.

 Wie gehst du dabei vor? (Methoden/Werkzeug, etc.)

Anders als man sich das vielleicht vorstellt, dass der Archäologe erstmal primär gräbt und im Feld tolle Sachen findet, ist meine Arbeit vor allem Literaturarbeit. Das heißt, ich muss nicht erst die Objekte als im Feld ausgraben, sondern in der Bibliothek und in Publikationen. Wichtig sind dabei Objekte mit einer relativ großen Verbreitung. Groß heißt in diesem Fall, dass die Objekte ein relativ klares Kerngebiet haben, in dem sie vorkommen und außerhalb dieses Kerngebietes streuen, also vereinzelt oder deutlich seltener vorkommen. Darüber hinaus ist wichtig, dass diese Objekte nach Möglichkeit aus einem gesicherten Fundkontext, also zum Beispiel aus einem Grab, einem Hort oder aus einem Siedlungskontext, kommen. Wenn ich hingegen Einzelfunde habe, wird es schwer eine Bedeutung oder gar einen Wertetransfer zu erkennen. Das sind Kriterien, die bei der Materialaufnahme beachtet werden müssen. Wenn ich dieses Material aufgenommen habe, gucke ich mir entsprechend an, in welchem Kontext die Objekte in Region A, also dem regulären Verbreitungsgebiet, vorkommen und vergleiche diese Situation dann mit der von den selben Objekten in Region B, C, D usw., also den Regionen in denen sie fremd scheinen, selten sind oder aufgenommen wurden. Als Beispiel könnte man Beile nehmen, die in der einen Region im Hort vorkommen und in anderen im Grab. Der unterschiedliche Fundzusammenhang könnte auf einen Wandel hinweisen, offensichtlich im Umgang mit dem Objekt aber auch in Bezug auf die Wertigkeit. Das Vergraben in einem Hort kann passieren um es vor Zugriffen zu schützen oder um es als Opfer im kultischen Rahmen aus der gelebten Welt zu entfernen. Im Grab hingegen ist ein Beil eher personengebunden, entweder um den Status der bestatteten Person darzustellen oder den der Hinterbliebenen. Und auch im Grab können der Kontext und die Bedeutung von Objekten stark schwanken. Das hängt mit den weiteren Beigaben zusammen. Diese Aspekte müssen verglichen werden und im Idealfall zeigt sich ein Wandel oder ein Wertetransfer.

Gab es Momente der Überraschung während deiner Forschung?

Im Prinzip ja - wobei es oftmals eher die kleinen Sachen sind, die überraschen - und befriedigen – nicht die gigantischen Überraschungen. Vor allem wenn man eine Vermutung, die man hatte, durch das Material nachprüfen kann und es sich dann bewahrheitet, ist das eine ganz schöne Sache. Und selbst wenn es nicht so funktioniert, wie man sich das ursprünglich gedacht hat, ist das zwar durchaus eine negative Überraschung und kann frustrierend sein, aber in der Regel ist es dann doch so, dass auch dadurch Einblicke entstehen und neue Ideen kommen. Das ist auch positiv und bringt einen voran. Das ist glaube ich das, was die Arbeit für mich persönlich befriedigend und lohnenswert macht. Dass es während der Dissertation immer wieder zu Überraschungen und Wendungen kommt, ist natürlich und selbstverständlich. Und das sich dadurch auch mal die Herangehensweise oder der Fokus verschiebt, kommt dann zwar durchaus überraschend, ist aber in der Regel doch zielführend und hilfreich.

Welchen Einfluss erhoffst du dir von deinen Forschungsergebnissen?

Das ist eine wirklich gute Frage - einfach aus dem Grund, dass natürlich jede Arbeit Einfluss haben soll und vielleicht sogar revolutionär ist. Letzteres erwarte ich aber auch nicht von meinen Forschungsergebnissen. Eher, dass man einen weiteren Puzzlestein zu dem großen Bild der europäischen Bronzezeit und der Interaktion zwischen den einzelnen Regionen erhält. In der Bronzezeit interagieren die einzelnen Regionen in Europa stark miteinander und beeinflussen sich gegenseitig. Teilweise können wir klare Einflüsse erkennen, manche Regionen sind ein richtiges Konglomerat aus Einflüssen andere hingegen scheinen nur wenig von Außerhalb aufzunehmen. Das Bild, was sich uns aus heutiger Sicht bietet, ist da sehr komplex und durchaus noch verwirrend und verschleiert. Daher hoffe ich mit der Arbeit meinen Teil dazu beizutragen, das Bild etwas klarer zu gestalten.

Wo siehst du dich in 10 Jahren?

(Lachen) So weit habe ich tatsächlich noch nicht gedacht. Es wär natürlich schön, wenn ich weiter in der Forschung bleiben kann, im Optimalfall im universitären Rahmen. Das wäre so das große Ziel. Ich muss aber sagen, dass ich momentan erstmal  meine Arbeit fertig kriege möchte und mich vor allem drauf konzentrieren. Wie es danach genau weiter geht…. Ob ich von der Universität an Landesämter wechsle um dort aktiver in der Denkmalpflege oder Öffentlichkeitsarbeit zu arbeiten oder ob ich an der Universität bleibe und mich in die Forschung und Lehre einbringe, wird sich zeigen. beides wäre interessant, hat seine Reize und bietet Abwechslung. Derzeit arbeite ich 3 Jahre lang zu einem großen Thema, danach hätte etwas Abwechslung durchaus seinen Reiz -  alleine schon, da es noch weiter interessante Fragen zur Bronzezeit gibt! Aber wie gesagt, weiß ich im Moment einfach noch nicht genau, wo ich in zehn Jahren stehe. In zwei drei Jahren schon eher. Da ist die Forschung fertig,  die Arbeit ist publiziert, ich hab meine Promotion und bin in der Archäologie unter Lohn und Brot. Aber genauer kann ich es noch nicht sagen. Und wenn es dann noch mal sieben oder acht Jahre mehr werden, wird es halt einfach nebulös. Man muss es auch ganz ehrlich sagen, die Archäologie ist schlicht und ergreifend ein relativ kleines Feld, in dem die Jobangebote überschaubar sind. Man sollte entsprechend nicht allzu wählerisch sein und auch etwas Glück und Timing spielen eine Rolle – außerdem bieten sich so Chancen, die einem auf den ersten Blick nicht immer offensichtlich sind. Letztendlich war auch die Promotion im Graduiertenkolleg ein Glücksgriff und gutes Timing, da mein Studienende und die Ausschreibung zeitnah zusammen gefallen sind. Vielleicht klappt’s mit dem Glück auch weiter, aber das kann man nicht erwarten.

LUKAS WIGGERING promoviert seit 2013 in der Vor- und Frühgeschichte Europas an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zuvor studierte er Prähistorische Archäologie, Geologie und Klassische Archäologie an der Martin-Luther-Universität Halle. Ausgehend von seinem im Studium entstandenen Interesse an der Europäischen Bronzezeit, der Metallurgie sowie dem kulturellen Austausch, beschäftigt sich Lukas Wiggering im Rahmen der Promotion im Graduiertenkolleg „Wert und Äquivalent“ mit dem Austausch und Wandel von Artefakten und damit verbundenen Werten. Weitere Forschungsinteressen betreffen Beziehungen und kulturellen Austausch bronzezeitlicher Kulturen Mittel- und Nordeuropas sowie damit verknüpfte soziale und kulturelle Elemente.

Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

Gebiete links und rechts des Rheins, insbesondere das Stammesgebiet der gallischen Treverer rund um Trier

Menschen | Tun | Dinge Tradition und Wandel

Terra Sigillata
am Rhein —
Mediterranes
Tafelgeschirr in
Gallien und
Germanien

Nach den Feldzügen des berühmten römischen Staatsmannes Gaius Julius Caesar im zentralen und nördlichen Gallien in den 50er Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr. beanspruchte Rom die Herrschaft über ganz Gallien. Die dafür entscheidende Voraussetzung, der Aufbau einer einheitlichen Verwaltung nach römischem Vorbild, kam in der Folge nur stockend und langsam voran. Nach der Ermordung Caesars im Jahre 44 v. Chr. entbrannte ein blutiger Bürgerkrieg, aus dem erst im Jahre 31 v. Chr. Caesars Neffe und Adoptivsohn Octavian als Sieger hervorging. Die Konsolidierung der Herrschaft Octavians, der ab dem Jahre 27 v. Chr. den Ehrentitel Augustus führte, nahm weitere Jahre in Anspruch, so dass das zentrale und nördliche Gallien erst etwa ab dem Jahre 20 v. Chr. wieder in das Blickfeld römischer Politik geriet. Nun wurde der Prozess der Etablierung der römischen Verwaltungsstrukturen mit aller Macht vorangetrieben, es wurden Städte nach römischem Vorbild gegründet und der Ausbau der Infrastruktur forciert. Augustus residierte in den Jahren 16 bis 13 v. Chr. selbst in Lugdunum, dem heutigen Lyon. Jetzt wurde auch der Rhein als Grenze militärisch gesichert und große Truppenkontingente in neu errichtete Lager verlegt. Damit war die Voraussetzung geschaffen, um ab dem Jahr 12 v. Chr. Feldzüge ins rechtsrheinische Germanien mit der Absicht, eine germanische Provinz zu errichten, durchzuführen. Nach anfänglichen Erfolgen scheiterte dieses Unterfangen jedoch an der Niederlage des römischen Oberbefehlshabers Varus in der Schlacht im Teutoburger Wald, in der drei römische Legionen vernichtet wurden. Der Nachfolger des Augustus, sein Stiefsohn Tiberius, brach die geplanten Eroberungen ab und etablierte erneut den Rhein als Grenze des Imperiums.
Diese Zeiten des Umbruchs sind besonders im Hinblick auf die hier relevante Frage nach Tradition und Wandel von Interesse. Einen spannenden Einblick bietet dabei die Keramik aus archäologischen Ausgrabungen. Keramik gehört zu den häufigsten Funden überhaupt und erlaubt Einblicke in das tägliche Leben der Menschen, die sie einst verwendet haben. Die Gallier und Germanen am Rhein benutzten eine Keramik, die von jener der Römer sehr verschieden war. Sie unterschied sich von dieser sowohl durch ein eigenes Formenspektrum als auch durch die Farbe. Während die Gefäße der Gallier oftmals hohe Formen aufwiesen und von dunkler Farbe waren, waren bei den Römern helle Gefäße und auch flache Tellerformen üblich. Dabei steht die Keramik der Römer im Gegensatz zur Keramik der Gallier und Germanen in einer mediterranen Tradition und weist auch Verbindungen in das östliche Mittelmeergebiet auf. Bedingt werden die unterschiedlichen Formen der Gefäße von Galliern, Germanen und Römern auch durch unterschiedliche Ernährungs- und Essgewohnheiten. Während hohe Gefäße sich gut für flüssige Speisen wie Suppen oder Eintöpfe eignen, nutzt man Teller und Platten besser für festere Gerichte. Die unterschiedliche Farbgebung der Keramik kam durch unterschiedliche Brenntechniken zu Stande. Wenn Gefäße unter Sauerstoffabschluss gebrannt werden, entsteht eine schwarze Farbe (reduzierender Brand). Wird während des Brennprozesses hingegen Sauerstoff zugeführt, oxidiert das im Ton enthaltene Eisen und es entsteht eine helle Farbgebung (oxidierender Brand).
Eine besonders hochwertige und feine römische Keramikgattung ist die sogenannte Terra Sigillata. Sie diente als Auftrags- und Tafelgeschirr bei Tisch. Gelegentlich ist auch scherzhaft vom ‚Porzellan der Antike‘ die Rede. Der moderne Begriff ‚Terra Sigillata‘, der übersetzt so viel wie ‚gestempelte Erde‘ bedeutet, bezieht sich auf die Praxis, die Gefäße mit Herstellerstempeln zu versehen. Ein weiteres Charakteristikum dieser Warengattung ist ein glänzender roter Überzug, der aus sehr fein geschlämmtem Töpferton besteht. Produziert wurde die in hohem Grade standardisierte Terra Sigillata massenweise in einigen wenigen Produktionszentren in Italien. Hier spielen besonders Arezzo und Pisa eine herausragende Rolle. Außerdem produzierte man für einen kurzen Zeitraum auch im französischen Lyon. Dazu waren neben besonderen Kenntnissen auch hochwertige und technisch ausgereifte Brennöfen nötig. Vor allem mit den römischen Legionen, die im Zusammenhang mit den Germanenfeldzügen an den Rhein verlegt wurden, gelangten große Mengen dieser Keramik in die Region. Die römischen Legionäre stammten aus dem Mittelmeerraum und brachten ihre Essgewohnheiten mit an den Rhein. Dazu benötigten sie nicht nur die entsprechenden Lebensmittel wie Olivenöl und Wein, sondern auch das geeignete Geschirr. So gerieten spätestens seit der Ankunft römischer Legionäre die einheimischen Gallier und Germanen am Rhein in Kontakt mit dieser Keramikgattung. Interessant ist der Prozess der Rezeption der neuartigen Keramik durch die einheimische Bevölkerung und deren Einfluss auf die lokalen Keramiktraditionen. Hier sind verschiedene Möglichkeiten von einer weitgehenden Übernahme bis hin zu einer kompletten Ablehnung denkbar. Tatsächlich lassen sich verschiedene Prozesse beobachten. Ein anschauliches Beispiel liefert das Stammesgebiet der gallischen Treverer im Mosel- und Eifelraum. Kontakte in den Süden bestanden schon seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. Im Hauptort der Treverer auf dem Titelberg in Luxemburg fanden sich zahlreiche importierte Weinamphoren bereits aus früher Zeit. Mediterrane Feinkeramik taucht jedoch erst im 1. Jahrhundert v. Chr. in nennenswerten Mengen im Treverergebiet auf. Heute kennt man in diesem Raum einige gut erforschte Nekropolen (Gräberfelder), die das Aufkommen dieser neuen Waren schrittweise aufzeigen. Ein anschauliches Beispiel ist die Nekropole von Goeblingen-Nospelt unweit des treverischen Hauptortes auf dem Titelberg. Fünf große Kammergräber decken dort einen Zeitraum von etwa 50 Jahren ab. Auf Grund der reichen Ausstattung dieser Gräber ist es naheliegend, dass es sich bei den Bestatteten um Angehörige der gesellschaftlichen Oberschicht handelte. Der treverische Adel stand in einer wechselhaften Beziehung zu Rom. Während des gallischen Krieges wechselten die Treverer mehr als einmal die Fronten. Auch intern war man gespalten. Es existierte eine pro- und eine antirömische Partei innerhalb der treverischen Oberschicht. Vier der fünf Verstorbenen von Goeblingen-Nospelt waren Männer und die fünfte eine Frau. Die Männergräber enthielten Sporen und Waffen, wodurch sich die Bestatteten als Reiterkrieger zu erkennen geben. In allen fünf Gräbern fand man viele Keramikgefäße. Die ältesten beiden der fünf Gräber liegen chronologisch nahe beieinander (um 40 v. Chr.) und enthalten mit Ausnahme einer italischen Weinamphore und eines importierten Bechers ausschließlich einheimische Keramik. Im etwas jüngeren dritten Grab (um 20 v. Chr.) sind die römischen Einflüsse schon sehr deutlich zu erkennen. Dort treten neben einer Amphore auch schon die typisch römischen Formen von Tellern und Platten auf, darunter auch importierte Terra Sigillata. Auch ebenfalls importierte feinkeramische Becher sind vorhanden, doch tritt neben den klassischen einheimischen Gefäßen und importierten Waren wie der Terra Sigillata in diesem Grab bereits eine neue Keramikgattung in Erscheinung, die im Gebiet der Treverer um 30 v. Chr. aufkommt und eine weite Verbreitung findet: die sogenannte Belgische Ware. Das Besondere an dieser neuen Gattung ist, dass sie sowohl lokale als auch mediterrane Traditionen in sich vereint. Gefertigt wurden sowohl die bekannten einheimischen als auch die neuen römischen Formen in schwarzer und roter Technik. Im vierten Grab, das nur wenig jünger ist als das dritte (zw. 20 u. 10 v. Chr.), sind die einheimischen Keramikformen fast vollständig verdrängt. Neben einigen Importstücken spielt die Belgische Ware nun die wichtigste Rolle in dieser Bestattung. Besonders auffällig ist die große Anzahl von in der vorrömischen Zeit praktisch nicht vorkommenden Tellern und Platten. Auch das fünfte und jüngste Grab von Goeblingen-Nospelt (wenige Jahre nach dem vierten Grab) enthält praktisch keine gallische Keramik mehr. Ähnliche Beobachtungen wie in Goeblingen-Nospelt lassen sich auch an anderen Nekropolen des Treverergebiets und darüber hinaus machen. Insgesamt ist eine deutliche Entwicklung erkennbar. Während in der Zeit bis zum gallischen Krieg nahezu ausschließlich die einheimischen Gefäßformen vorherrschen, ändert sich dies in der darauf folgenden Zeit. Dieser Prozess setzt zunächst nur langsam ein und äußert sich durch Beigaben einzelner importierter Gefäße neben ansonsten weitgehend lokaler Keramik. Schon bald darauf beginnt jedoch in diesem Raum die Produktion der neuen, stark von der mediterranen Ware beeinflussten Belgischen Ware. Dabei handelt es sich um eine Verschmelzung mediterraner und lokaler Formen und Techniken. Dieser Prozess beginnt zunächst mit einer Experimentierphase mit zahlreichen verschiedenen zum Teil sehr kurzlebigen Formen, bevor sich schließlich einige Typen durchsetzen können. Durch den Einfluss der mediterranen Keramik wurde die lokale Keramik der Treverer nachhaltig beeinflusst und das Spektrum in kurzer Zeit grundlegend verändert. Es entsteht regelrecht der Eindruck, dass die hier neu aufkommenden römischen Gefäße und vor allem die Terra Sigillata den lokalen Töpfern eine Fülle von neuen Vorbildern und Ideen lieferten, die in großem Umfang von diesen umgesetzt wurden. Dabei spielten die neugegründeten Städte und Militärlager eine wichtige Rolle als Zentren, von denen aus die Terra Sigillata ins Umland verbreitet wurde. Die gröbere Gebrauchskeramik der Gallier wurde von diesem Prozess weitaus weniger stark beeinflusst.
Wie ist dieser Prozess im Hinblick auf Tradition und Wandel zu bewerten? Scheinbar bricht die lokale gallische Keramiktradition mit dem großräumigen Kontakt mit römischen Waren wie der Terra Sigillata rapide ein. Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch auf, dass auch die neuen Formen nicht vorbehaltlos übernommen wurden und die alten ersetzt haben. Vielmehr verschmelzen hier zwei Traditionsstränge miteinander. Ist die neu entstehende Belgische Ware nun eine römische oder eine gallische Keramikgattung? Die Antwort darauf lautet wohl: weder noch, es handelt sich um eine neue ‚gallorömische‘ Ware. Die neuen Formen und Techniken fanden schnell Einzug in die Lebenswelt der lokalen Bevölkerung. Auch die nach wie vor importierte Terra Sigillata gehörte im Laufe der Zeit zum Alltag. Doch was bewegte die Menschen dazu, ihre eigenen Keramiktraditionen teilweise aufzugeben? Welche ästhetischen Empfindungen lösten die qualitätvolle Terra Sigillata sowie die Bilderwelt des Reliefdekors in ihnen aus und welche Rolle spielten dabei der Glanz und die Farbigkeit der Oberfläche? Welche Folgen hatte der mit der Veränderung der Keramikformen einhergehende Wandel der Essgewohnheiten? Inwieweit Terra Sigillata im Laufe der Zeit noch als Fremdkörper empfunden wurde, muss offen bleiben. Genauso ist denkbar, dass man sie ab einem gewissen Zeitpunkt als Teil der eigenen Tradition wahrnahm. Diese Möglichkeit scheint auch gerade dann nicht auszuschließen zu sein, wenn man sich vor Augen führt, wie viele an sich fremde Dinge heute Teil unserer Kultur sind. Der Kaffee oder Tee zum Frühstück gehört für die meisten Menschen genauso zum Alltag wie der Pfeffer im Essen. Würden wir diese Dinge als Fremdkörper in unserem Umfeld wahrnehmen, nur weil sie von weit her stammen? Oder begreifen wir sie nicht eher als etwas Selbstverständliches und würzen unser traditionelles Festessen weiterhin mit Pfeffer aus Indonesien?

3D-Scan

3D-Scan und Modell: Nico Serba, Frankfurt University of Applied Sciences
Menschen | Tun | Dinge Tradition und Wandel

Interview Thomas Hahn

Stell dir vor, du erklärst einem Laien vor Ort dein Promotionsthema.

Was sagst Du?

Ich würde zunächst mit den historischen Rahmenbedingungen anfangen: Vor etwa 2000 Jahren hat der erste römische Kaiser Augustus versucht das rechtsrheinische Germanien zu erobern. Mit den Feldzügen kamen dann tausende römische Legionäre an den Rhein, die dort und auch rechts des Rheins Lager errichtet haben. Diese römischen Legionäre stammten aus dem Mittelmeerraum und hatten ihre eigene Keramik, die sie gewohnt waren zu benutzen: die sogenannte Terra Sigillata. Über diese Keramik, die Terra Sigillata, arbeite ich. Die römischen Legionäre wollten auch am Rhein und in Germanien ihr vertrautes Tafelgeschirr bei Tisch benutzen. Deshalb wurde die Terra Sigillata aus Italien und aus Lyon importiert. Sie unterschied sich sehr stark von der einheimischen Keramik, die die hier ansässigen Gallier und Germanen benutzt haben. Meine erste Frage lautet nun, welchen Einfluss diese Terra Sigillata auf die lokale Keramik der Gallier und Germanen hatte. Wie diese Keramik beeinflusst wird und wie die lokale Bevölkerung diese neue Ware rezipiert. Für den zweiten Punkt meiner Fragestellung schaue ich mir die neu entstehenden römischen Siedlungen und Lager an und frage nach deren Belieferung. Wie und woher wurden sie mit Terra Sigillata versorgt? Dafür arbeite ich auch sehr viel mit geochemischen Analysen, die mir sagen können, wo ein bestimmtes Gefäß einst hergestellt worden ist.

Wie gehst du dabei vor?

Für die zweite Frage nach der Herkunft der Terra Sigillata arbeite ich sehr viel mit geochemischen Analysen. Terra Sigillata bedeutet übersetzt gestempelte Erde. Das ist kein antiker sondern ein moderner Begriff und bezieht sich darauf, dass diese Gefäße auf dem Innenboden einen Stempel haben. Hier hat quasi der Hersteller seinen Namen eingedrückt, wenn man so will. Diese Stempel beinhalten auch Informationen, wo ein Gefäß hergestellt worden ist. Das sind die beiden wichtigsten Methoden der Herkunftsbestimmung, mit denen ich arbeite: Chemische Analysen und Stempelbestimmung. Für die erste Frage nach der Rezeption in einheimischen Kontexten schaue ich mir dann Befunde in germanischen und gallischen Siedlungen an und schaue dann weiter, ob dort Terra Sigillata vorhanden ist und wenn ja, in welchen Größenordnungen. Ist das verhältnismäßig viel oder ist das eher wenig? Und dann frage ich, wieso die Sigillata dort ist und wie sie dorthin gelangt ist und prüfe, ob es auch innerhalb der lokalen Keramik Einflüsse gibt. Das kann sich z.B. darin äußern, dass man versucht Formen nachzuahmen. Diese gallischen und germanischen Fundstellen kann ich größtenteils nur aus bereits existierenden Publikationen erfassen, während ich für die Frage nach der Belieferung der römischen Fundstellen mit dem Material selbst arbeite, um Stempel zu bestimmen oder die chemischen Analysen durchzuführen. Dadurch ist mein Projekt auch sehr viel mit Reisen verbunden, weil sich das Fundmaterial nicht in Frankfurt befindet und nur in Ausnahmefällen hierher gebracht werden kann. Ich muss sehr oft in die Depots oder an die Fundorte selbst, in die Schweiz oder nach Italien. Das gehört dann natürlich auch dazu.

Gab es Momente der Überraschung während deiner Forschung?

Was mich positiv überrascht hat, war sicherlich, dass ich von vielen externen Kollegen an den Fundorten oder an den Orten, wo das Material gelagert ist, sehr positiv und sehr freundlich empfangen worden bin. Und ich habe auch meistens problemlos Zugriff auf das komplette Material bekommen und jegliche Unterstützung, die ich mir hätte wünschen können. Außerdem möchte ich die Unterstützung, die mir hier im Haus selbst gewährt wird, dankend hervorheben, die ich jetzt allerdings nicht als positive Überraschung herausstellen würde, da mir das Umfeld ja bereits vor dem Beginn meines Projekts sehr gut vertraut war.

Welchen Einfluss auf die heutige Forschung erhoffst du dir von deinen Forschungsergebnissen?

Das ist eine schwierige Frage. Ich habe ja schon erwähnt, dass ich sehr viel mit Analysen arbeite. Wenn man bisherige archäologische Arbeiten anschaut, die sich auch mit Keramikanalytik befassen, dann beinhalten diese meistens nur eine geringe oder zumindest überschaubare Anzahl an Analysen. In meine Arbeit fließen über 1000 geochemische Analysen mit ein. Daher hoffe ich im Bereich der archäometrischen Keramikanalytik einen Beitrag leisten zu können. Außerdem hoffe ich durch die zahlreichen Analysen und den Vergleich mit den Töpferstempeln Aussagen zur Stichhaltigkeit der Herkunftsbestimmung mittels Töpferstempeln machen zu können.

Wo siehst du dich in 10 Jahren?

Die Frage kann ich am kürzesten beantworten: Momentan konzentriere ich mich auf den Abschluss meiner Dissertation und habe noch keinerlei Bild von mir in 10 Jahren vor Augen.


THOMAS HAHN studierte von 2007 bis 2012 Archäologie und Geschichte der römischen Provinzen sowie Archäometrie und Klassische Archäologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Im Rahmen seines Studiums und sich anschließender Projektarbeiten spezialisierte er sich auf die Bereiche Wirtschaftsarchäologie und Keramikforschung. Einen Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Durchführung und Auswertung von geochemischen Analysen an antiker Keramik mit Hilfe eines portablen Analysegerätes und im Labor. Er promoviert seit 2013 im Graduiertenkolleg „Wert und Äquivalent“ über „Italische Terra Sigillata und mediterrane Feinkeramik im Kontext der Etablierung der römischen Herrschaft am Rhein unter Augustus und Tiberius“.

Moderne Replik eines Terra Sigillata-Tellers

Bei dem ausgestellten Teller handelt es sich um die Replik eines Terra Sigillata-Tellers vom Typ Conspectus 18.2. Diese Teller waren zur Zeit um Christi Geburt eine beliebte Form. Vergleichbare Stücke dienten als Speise- und Auftraggegeschirr bei Tisch. Auf ihnen wurden trockene Speisen angerichtet. Fast alle Sigillata-Gefäße verfügten auf der Bodeninnenseite über einen Töpferstempel, der wichtige Hinweise zum Produktionsort enthält.
Replik: Elisabeth Reuter, Friedberg. Foto: Birgitta Schödel, Goethe-Universität Frankfurt

Vergleich von einigen Terra Sigillata-Formen und typisch gallischen und germanischen Gefäßen sowie den neu entstandenen gallorömischen Formen

Der Kontakt mit vorher weitgehend unbekannten Keramikwaren und Formen führte in Gallien bereits sehr früh zur Entstehung neuer Gefäße. Dabei kam es zu einer Verschmelzung gallischer und mediterraner Formen und Techniken und einer gleichzeitigen Verdrängung einiger keltischer Töpfertraditionen. Die neu entstandene lokal gefertigte Keramikware wird als "Belgische Ware“ bezeichnet.
Grafik: Thomas Hahn

Karte des Stammesgebietes der gallischen Treverer

Die Karte zeigt das Stammesgebiet des gallischen Stammes der Treverer, die nach der Eroberung Galliens in größerem Umfang mit neuen Keramikwaren in Kontakt gekommen sind. Die Kreise markieren wichtige Siedlungen und die Quadrate wichtige Nekropolen (Gräberfelder). Die Gräber sind auf Grund ihrer Beigaben eine wichtige Quelle für die Archäologie.
Grafik: Martina Miocevic, nach Kartierung von Thomas Hahn

Rekonstruktion von Grabkammer B aus Goeblingen-Nospelt

Das Foto zeigt die im luxemburgischen Musée national d’histoire et d’art (MNHA) ausgestellte Rekonstruktion des Grabs B von Goeblingen-Nospelt. In diesem Grab wurde etwa um 20 v. Chr. ein Angehöriger der Oberschicht des gallischen Stammes der Treverer bestattet. Die Beigaben von Waffen und Reitsporen charakterisieren ihn als Reiterkrieger. Die Keramikgefäße sind größtenteils bereits als gallorömisch zu bezeichnen. Das Inventar zeigt, wie schnell sich das Keramikspektrum innerhalb lokaler Kontexte veränderte.
© MNHA 2015. J. Metzler/C. Gaeng/I. Le Goff et al., Goeblange-Nospelt. Une nécropole aristocratique trévire. Dossiers d‘archéologie du Musée national d‘histoire et d‘art 13 (Luxemburg 2009), 79 (Abb. 64)

Querschnitt durch einen Terra Sigillata-Brennofen

© Graduiertenkolleg Wert und Äquivalent, Goethe-Universität Frankfurt. Grafik: die InformationsGesellschaft mbH

Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

British Columbia, Kanada

Menschen | Tun | Dinge Tradition und Wandel

Eine Prise
Tradition? —
First Nation
Cuisine in British
Columbia

Seit dem ersten Kontakt mit europäischen Seefahrern im ausgehenden 18. Jahrhundert hat die Lebensweise der als ,First Nations‘ bezeichneten indigenen Bevölkerung der kanadischen Nordwestküste drastische soziokulturelle Veränderungen durchlaufen. Die Neuankömmlinge brachten nicht nur Krankheiten, Alkohol und Feuerwaffen ins heutige British Columbia. In den Bäuchen ihrer Schiffe transportierten sie auch in dieser Region der Welt bislang unbekannte Nahrungsmittel und Kochutensilien. Die Einführung von Zucker, Brot und Kartoffeln sowie von metallenem Kochgeschirr mag in diesem Zusammenhang vergleichsweise unschuldig wirken. Ihre Konsequenzen für die Lebensweise der First Nations sind jedoch nicht weniger radikal. Der Großteil der ethnologischen Arbeiten zur kanadischen Nordwestküste befasst sich mit den Veränderungen der Lebensweise der First Nations. Mit Hilfe von archäologischen und archäobotanischen Funden lässt sich diese Entwicklung sogar bis in eine Zeit von vor ca. 12.500 Jahren nachvollziehen. Gleichwohl könnten allein die Arbeiten zur zeitgenössischen Lebenswelt der First Nations ganze Bibliotheken füllen. Und dennoch – ein Aspekt bleibt bislang nahezu unbeachtet: Es geht um eine kleine, aber stetig wachsende Gruppe von Mitgliedern der First Nations, die sich Fragen nach ihrer kulturellen, aber auch ganz persönlichen Identität im Kontext des 21. Jahrhunderts stellen. Entscheidend ist, dass sie dies auf ganz praktische und sehr geschmackvolle Art und Weise tun, nämlich mit umgebundener Schürze und dem Kochlöffel in der Hand.

Kulturkontakt

Als Kapitän James Cook im Frühjahr 1778 an der Westküste von Vancouver Island Anker warf, ahnte noch niemand das unheilvolle Schicksal der First Nations. Es folgte ein Jahrhundert, das nicht nur durch die ökonomischen und ökologischen Konsequenzen der Etablierung des Pelz- und Holzhandels sowie des Mineralabbaus geprägt war. Die gewaltigen Veränderungen bahnten den Weg für eine humanitäre Katastrophe epochalen Ausmaßes. Pockenepidemien und Tuberkulose spielten dabei eine ebenso große Rolle wie die Folgen von Prostitution, Drogen und Alkoholismus. Ohne der Komplexität dieser Entwicklung gerecht werden zu können, kann man festhalten, dass intensive Missionierung, die (Um-)Erziehung mehrerer Generationen in sogenannten ,Residential Schools‘, das Verbot zeremonieller Handlungen, kompromisslose Siedlungs- und Reservationspolitik, Monetarisierung und die Eingliederung in industrielle Produktionsverhältnisse, Land- und Ressourcenverknappung durch industrielle Ausbeutung und Umweltverschmutzung zu den zentralen Faktoren gehören, die die Geschichte der First Nations British Columbias prägen. Eine Geschichte, die vor allem vom Verlust, aber auch – und zunehmend mehr – vom Kampf um die eigene (kulturelle) Identität erzählt. Am derzeitigen (End-)Punkt dieser Geschichte steht eine indigene Gesellschaft, die durch eine nachhaltig angeschlagene Umwelt, ihrer Ernährungssicherheit und -souveränität beraubt, als politische und kulturelle Minderheit in und zugleich am Rande der kanadischen Gesellschaft ihr Dasein fristet. Schlussendlich und gemessen am nationalen Durchschnitt haben Mitglieder der First Nations heute das geringste Einkommen, die schlechteste Ausbildung und mitunter geringste Lebenserwartung. Das Thema Ernährung spielt dabei in vielerlei Hinsicht eine wichtige Rolle.

Historische Ernährungsweise

Bis zum Kontakt mit europäischen Seefahrern beruhte die Ernährung der First Nations auf dem, was Flora und Fauna im warmgemäßigten Klima der Nordwestküste im Überfluss zu bieten hatten. Neben Meeresfrüchten und Wild war Fisch, allem voran Lachs, eines der wichtigsten Lebensmittel und zugleich zentraler Bestandteil des kulturellen Lebens. Man sammelte und aß zudem eine Vielzahl von wild wachsenden pflanzlichen Nahrungsmitteln wie saure, süße und bittere Beerensorten, diverse Blattgemüse, Algen, Pilze, Farne und Moose. Auch aus Bäumen und Buschgewächsen gewonnene Produkte wie Säfte, junge Triebe und Streifen der inneren Rinde bestimmter Nadelbaumarten, sogenannte ‚Pine Noodles‘, standen auf dem Speiseplan. Eine wichtige Rolle spielten außerdem Wurzel- und Knollengewächse wie Bitterwurz oder die unterirdische Frucht bestimmter Lilienarten. Da sich die indigene Bevölkerung British Columbias aus über 200 Nations aus drei Sprachfamilien zusammensetzt, die Darüber hinaus in topografisch teils sehr unterschiedlichen Gebieten leben, ist diese Beschreibung notwendig verallgemeinernd. Dennoch legt die Ethnografie dieser Region nahe, von einer gewissen Gleichförmigkeit in Bezug auf bestimmte Lebensbereiche sprechen zu können. Das gilt auch für Ernährungsweisen. Regionale oder gruppenspezifische Unterschiede setzen dann entsprechende Akzente. Eines der zentralen Elemente der historischen Ethnografie British Columbias ist die seminomadische Lebensweise. Sie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der damaligen Ernährung: Im Frühling, Sommer und Herbst bewohnte man entlang der Küste saisonal errichtete Camps, deren Standorte durch Erbrechte an Fisch-, Jagd- und Sammelgründen bestimmt wurden. Dies brachte die Notwendigkeit mit sich, die saisonalen Lebensmittel für den Transport und das Überleben in den Wintercamps haltbar zu machen. Zu diesem Zweck wurden tierische Nahrungsmittel wie Fleisch, Fisch und Meeresfrüchte geräuchert oder getrocknet. Beeren und andere Früchte wurden zu Quittenbrot ähnlichen ‚Fruchtkuchen‘ verarbeitet und ebenfalls luftgetrocknet oder indirekt geräuchert. Frische Beeren wurden zudem in Holzkisten verpackt, mit Fischöl oder anderen tierischen Fetten übergossen und so konserviert.  Zum Garen frischer aber auch präservierter Lebensmittel gab es vor der Einführung von metallenem Kochgeschirr eine Reihe von Methoden, die sich in vier Basistechniken gruppieren lassen: das Sieden oder Dünsten in Holzkisten oder wasserdichten Körben mit Hilfe von heißen Steinen, das Dünsten im Erdofen, das Backen in Glut oder Asche und schließlich das Rösten oder Grillen am offenen Feuer. Allerdings wurden unabhängig von diesen Garmethoden viele der geräucherten, getrockneten oder eingelegten Präserven gerne direkt in Fischöl gedippt und gegessen. Das Fischöl spielte also nicht nur als Präservierungsmittel, sondern vor allem als Lebensmittel und geschmackliches Kernelement dieser Küche eine Rolle. Das damals wie heute wohl begehrteste Fischöl wird durch das Auskochen des sogenannten Kerzenfischs gewonnen. Dieser ist so fettig, dass er getrocknet wie eine Kerze brennt. Generell scheint es, als könne man die Rolle von diesem und anderem Fischöl für das Leben und die Kultur der Menschen in dieser Region kaum überbetonen. Entsprechend beschreibt der Haida-Künstler Bill Reid Fischöl mit Bezug auf seine goldgelbe Farbe als ‚Sonne‘, die den Menschen im Winter Wärme spendet und ihr Überleben sichert. Fischöl hatte zudem eine ökonomische und infrastrukturelle Bedeutung. So gab es ein ganzes Netz von Handelswegen entlang der Küste und ins Inland, die heute als ‚Grease Trails‘, also ‚Fett- oder Öl-Pfade‘, bekannt sind. Dabei ist es wichtig, anzumerken, dass über diese Handelsrouten nicht nur materielle Güter den Besitzer wechselten. Sie waren zugleich Kanäle interkulturellen Austauschs. Nicht zuletzt spielte Fischöl eine wichtige Rolle in verschiedenen rituellen Kontexten. So gab es ganze ‚Öl-Feste‘, bei denen den anwesenden Gästen enorme Mengen von Fischöl serviert oder auch schlicht gezeigt wurden, um anschließend vor ihren Augen dramatisch vernichtet zu werden. Noch heute ist Fischöl eines der begehrtesten Güter der indigenen Bevölkerung. Doch die Fische werden weniger, während zugleich das kulturelle Wissen um seine Herstellung zusehends verloren geht.
 

TV-Dinner

Ein Großteil der heutigen Ernährung vieler First Nations besteht im Wesentlichen aus verzehrfertigen Produkten der nordamerikanischen Lebensmittelindustrie. Technische Errungenschaften wie Tiefkühltruhen und Kühlschränke, Fritteusen und Mikrowellen finden in diesem Umstand einen fruchtbaren Nährboden. Längst haben sie den Großteil der historischen Zubereitungs- und Präservierungstechniken in Vergessenheit geraten lassen. Viele dieser Techniken gelten heute sogar als rückständig, primitiv oder gesundheitsgefährdend, wie beispielsweise das Fermentieren von Fischeiern. Es ist deshalb eine nicht unwichtige Randbemerkung, dass für die historische Ernährung weder Salz noch irgendeine Art von Zucker eine Rolle spielte. Vielmehr bestand ihr charakteristischer Geschmack in der Kombination von gustatorischen Nebeneffekten der historischen Präservierungtechniken und der Omnipräsenz von Fischöl. Auch das besagte Fermentieren und der heute als ‚Ageing‘ bezeichnete Prozess kontrollierter Verwesung prägten das Geschmacksbild maßgeblich.  Heute ist das anders. Aus einer gewürz- und kohlenhydratarmen, auf tierischen Proteinen und wilden pflanzlichen Nahrungsmitteln beruhenden Ernährung wurde eine auf Kohlenhydrate konzentrierte, gewürz-, zucker- und salzlastige Frittier- und Anbratküche, in der verzehrfertige Lebensmittel die frischen oder präservierten (wilden) Lebensmittel ersetzt haben. Ikonisches Gericht dieser Entwicklung ist der in ganz Nordamerika verbreitete ‚Indian Taco‘. Hierbei handelt es sich um einen an ungarisches Lángos erinnernden frittierten Teigfladen, auf den man erst eine ordentliche Portion Chili con Carne, dann etwas Salat, geriebenen Cheddar Käse und abschließend einen Klacks Sour Cream oder Salsa gibt. In First Nation Imbissen und Restaurants, auf Straßenfesten und auf Pow Wows, in Community Centers oder Museen sind Indian Tacos heute das Sinnbild für ‚Traditional Native Food‘.

Progressive Tradition?

Die historische Ernährungsweise der First Nations ist samt der dazugehörigen materiellen Kultur im Verschwinden begriffen. Unabhängig von der nicht zu leugnenden Eingliederung in das Gros kanadischer Ernährungsweisen muss man dieses hart gezeichnete Bild relativieren. Denn natürlich werden, je nach Region, Familie oder Altersgruppe, zu diversen Anlässen Speisen zubereitet, die sich an historischen Vorbildern orientieren. Fisch und andere tierische Lebensmittel aus dem Wasser sowie, je nach Verfügbarkeit, Wild und bestimmte Beerensorten gehören weiterhin fest zum (wenn auch nicht alltäglichen) Speiseplan. Dem gegenüber geraten die unzähligen wilden pflanzlichen Nahrungsmittel zusehend in Vergessenheit. Bezüglich der Zubereitungstechniken sind es allem voran Räucher- und Trocknungstechniken sowie die allseits beliebte Zubereitung von Fisch, Fleisch und Meeresfrüchten am offenen Feuer, die sich erhalten haben. Die Zubereitung in Erdöfen, Körben oder hölzernen Kochboxen wird dagegen fast ausschließlich im Rahmen universitärer Lehrveranstaltungen sowie touristischer Attraktionen oder Museumsaktionen praktiziert. Gleiches gilt für den Großteil der Präservierungstechniken. Von besonderem Interesse ist deshalb die rezente Herausbildung einer kulinarischen Avantgarde, die die Möglichkeiten und Grenzen einer zeitgenössischen First Nation Cuisine erkundet. Diese indigenen kulinarischen Pioniere wurden in den Techniken der klassischen Restaurantküche ausgebildet und haben teils in der internationalen Spitzengastronomie gelernt. Ihre Arbeitsweise besteht darin, Zutaten, Techniken und Geschmacksmuster der Ernährungsweisen ihrer Vorfahren kreativ zu hinterfragen und neu zu arrangieren. So werden vergessen geglaubte Zutaten mit ausgeklügelten Küchentechniken verarbeitet, während Produkte aus dem globalen Supermarkt unter der Verwendung historischer Verarbeitungstechniken mit der Geschmackswelt vergangener Zeiten fusioniert werden. Mit ihren kulinarischen Kreationen bringen diese Avantgardisten Fragen auf den Tisch, die in anderen Bereichen indigener Kultur, wie der Bildenden Kunst, Musik oder Literatur bereits eingehend diskutiert werden. Es sind Fragen nach der Identität indigener Kultur im 21. Jahrhundert: Wie geschlossen oder offen, wie homogen oder paradox sind Traditionen? Was bedeutet der Begriff der Tradition im Kontext stetig und immer schneller voranschreitender soziokultureller Veränderungen? Das hier vorgestellte Promotionsprojekt greift diese Problematik auf und fragt, inwiefern diese avantgardistischen Kreationen authentische First Nation Cuisine sind. Wie können sie trotz ihrer ‚Neuheit‘ in einer Tradition mit den Ernährungsweisen ihrer Vorfahren stehen? Wie werden diesbezügliche Veränderungen wahrgenommen und bewertet? Und wie geht man dabei mit zum Teil einander widerstreitenden Verständnissen von Tradition um? Wer entscheidet, was traditionell und authentisch ist? Beziehungsweise, kann überhaupt irgendetwas wirklich traditionell oder authentisch sein? Oder ist das am Ende schlicht die falsche Frage?


LITERATUR:

Drucker, Philip (1963): Indians of the Northwest Coast. American Museum of Natural History: American Museum science books, Bd. 3, Garden City: The Natural History Press.

Turner, Nancy J. (2005): The Earth’s Blanket. Traditional Teachings for Sustainable Living, Vancouver: Douglas & McIntyre. 

Kerzenfisch-Öl

Das Trocknen oder Räuchern gehörte zu den Techniken mit denen beispielsweise Fisch, Fleisch und andere Nahrungsmittel für den Winter haltbar gemacht wurden. Für den Verzehr wurden sie oft nicht weiter verarbeitet, sondern direkt in Fischöl gedippt und gegessen. Es waren diese Techniken, die in der Kombination mit dem intensiven Aroma des Fischöls das Geschmacksbild einer Küche prägten, die bis zum Kontakt mit europäischen Seefahrern keine Würzmittel wie Zucker oder Salz kannte.
Foto: Sebastian Schellhaas
Menschen | Tun | Dinge Tradition und Wandel

Interview Sebastian Schellhaas

Stell dir vor, du erklärst einem Laien vor Ort dein Promotionsthema. Was sagst Du?

Prinzipiell würde ich gerne voranstellen, dass ich die Frage anders beantworten möchte bzw. stellen würde. Als Ethnologe ist es ein hilfreiches methodologisches Grundprinzip, dass jegliche Forschungsfrage und damit das Problem und Thema der eigenen Arbeit vom Feld selbst gegeben, streng genommen sogar formuliert werden muss und nicht vorweggenommen werden kann. Die Option, es jemanden vor Ort erklären zu müssen, fällt daher weg. Schließlich sind ‚sie’ ja die Urheber des Ganzen. Das ist, als würde man Eulen nach Athen tragen. Wem ich es aber erklären muss – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes –, das sind die Leute hier. Allem voran wollen meine Fachkollegen erläutert bekommen, warum das was ich mache, interessant ist – das heißt streng genommen: für sie interessant ist. Sollte ich also ganz knapp zusammenfassen müssen, was ich mache und mit was ich mich beschäftige, dann würde ich – für ‚den Laien hier’ verständlich – sagen: Ich beschäftige mich mit einer kleinen Gruppe von Mitgliedern kanadischer First Nations in British Columbia. Genauer gesagt, befasse ich mich mit einer kleinen Gruppe von First Nation Köchen, die in der internationalen Spitzengastronomie gelernt haben und nun dieses Wissen – das technische Wissen, aber auch das Wissen um Material also Zutaten, über die man im globalen Zeitalter verfügen kann – mit ihrem eigenen kulturellen kulinarischen Hintergrund fusionieren. Das heißt also auch mit dem, was lokal an Lebensmitteln gegeben ist und was sie an eigenem technischem Know-How als kulturelles Erbe mitbringen. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Frage, inwiefern die Kreationen, die dabei entstehen traditionell sind, beziehungsweise die Küche ihrer Vorfahren und indigenen Zeitgenossen reflektieren und repräsentieren können.

Entscheidend ist, dass sich diese Frage in Gesprächssituationen mit diesen Köchen selbst hervorgekehrt hat. Und zwar in dem Sinne, dass sie gesagt haben, dass das was sie machen, traditionell und authentisch ist. Ihre Kreationen labeln sie dann mit Begriffen wie Progressiv Indigenous Cuisine oder First Nation Haute Cuisine, Traditional First Nation Cuisine with a Modern Twist etc., wobei letztlich jeder seine eigene Bezeichnung hat. Von der Seite der indigene community bleibt das natürlich nicht unkommentiert. So gibt es zum Beispiel elders die diese Art der Entwicklung alles andere als begrüßen und sagen, dass das, was diese Köche da machen, nicht traditionell ist; dass es nicht Teil ihrer Kultur ist; dass das nicht authentisch ist und auch nicht dafür sorgt, dass ihre Kultur und damit Identität und Erbe die Zeit überdauert. Es ist genau dieses Spannungsfeld, das mich interessiert. Dabei geht es dann jedoch nicht darum, darüber zu reden, was Tradition und Authentizität für alle Zeiten, ja nicht einmal für alle Mitglieder der First Nations in BC ist. Vielmehr geht es darum, dieses Spannungsfeld ethnographisch zu beschreiben – was einfacher klingt, als es dann letztlich ist.

Wie gehst du dabei vor?

Naja, man muss natürlich immer erst einmal die Literatur überblicken. Das ist ganz klar. Der erste Teil meiner Zeit hier im Graduiertenkolleg hat also darin bestanden Literatur zu durchforsten – von vorne bis hinten und alles was ich irgendwie im weitesten Sinne zum Thema Kochen und Essen bei First Nations finden konnte. Wobei sich das regional über gesamt Nordamerika erstreckt und natürlich auch andere Bereiche der indigenen Kultur betrifft, also nicht nur das konkrete Essen. Der nächste Schritt bestand anschließend darin, einen Gesamtüberblick darüber zu bekommen, was ‚vor Ort’ und jetzt passiert und was sich seit dem ersten Kontakt mit europäischen Händlern in der Mitte des 18.Jh. verändert hat. Das bedeutete nicht nur Feldforschung in British Columbia und Teilen Albertas, sondern ebenso Internetrecherche. Letztlich findet ein Großteil der indigenen Kommunikation und sozialer Interaktion heutzutage im Internet statt. Es sind oft weite Strecken, die diese vornehmlich ökonomisch schlecht gestellten Menschen überbrücken müssen, um den Kontakt mit ihren Verwandten und Freunden aufrecht und lebendig halten zu können. Neben der direkten Kommunikation über soziale Netzwerke gibt es außerdem unzählige indigene Homepages, Weblogs, Onlinezeitschriften etc. ‚Im Feld’ kommt für mich natürlich hinzu viel essen zu gehen, beziehungsweise gehen zu müssen. Das heißt in privaten Haushalten oder aber Restaurants sowie bei cummunity gatherings und ähnlichem. An ein solches Essen schließt sich in der Regel ein Gespräch an. Die Gesprächspartner können Personen sei, die über die Zeit hinweg zu Freunden geworden sind oder aber Personen, die ich expliziert aus dem Grund treffe, um mit ihnen Gespräche über ihre Arbeit zu führen. Wie das zum Beispiel bei besagten First Nation Köchen der Fall ist. Und schließlich, das ist der letzte und eigentlich einer der wichtigsten Punkte: koche ich – mit und für die Menschen mit denen ich zusammenarbeite.Es gibt also sehr viele sehr verschiedene Momente während meiner Forschungsarbeit und eigentlichen Feldforschung.

Gab es Momente der (negativen/positiven) Überraschung während deiner Forschung?

Oh ja. Wie gesagt, habe ich erst einmal viel gelesen und in der Folge ein ziemlich konkretes Bild davon gehabt was First Nation Küche ist – oder angeblich ist. Als ich dann endlich das erste Mal hin gefahren bin – ich war vorher noch nie in British Columbia – habe ich mich auf die Suche nach diesem First Nation Food gemacht. Es war enttäuschend. Ich habe zunächst entweder nichts oder nur Frybread beziehungsweise Bannock und Indian Tacos gefunden. Frybread oder Bannock bestehen aus einem frittierten Weizenmehlfladen, ähnlich einem salzig-süßen Kräppel. Für einen Indian Taco krönt man das Ganze mit einer ordentlichen Portion Chili Con Carne auf in Streifen geschnittenem Eisbergsalat, streut etwas geriebenen Cheddar Käse darauf und gibt einem Klacks Sour Cream dazu. An ein paar wenigen Orten ist mir außerdem noch etwas anderes begegnet, das als „Traditional Salmon BBQ“ angeboten wird – meist im Zusammenhang mit irgendwelchen Wild Life Adventure Touren oder Folkloreperformances. Da überkommt einen schnell ein Gefühl, das der ein oder andere Nordamerikareisende beim Anblick von jeder Menge buntem Indianer Kitsch in Souvenirshops sicher nachvollziehen kann: Je ‚authentischer’ und ‚traditioneller’ einem etwas angepriesen wird, umso mehr wirkt es gewollt, gemacht und unecht. Beispielsweise hab ich dann endlich in Vancouver ein mittlerweile Preisgekröntes First Nation Restaurant gefunden und die Karte rauf und runter bestellt. Doch nicht nur waren die verwendeten Zutaten allesamt ‚neu’ und die Techniken mit denen gekocht wurde, alles andere als außergewöhnlich. Das, was auf meinem Teller kam, hat sich nicht wirklich davon unterschieden, was in den Restaurants mit Pacific Northwest Cuisine in den Läden ein paar Meter weiter serviert wurde. Wie sollte das also traditionell oder überhaupt First Nation sein? Dieser Moment war erst einmal extrem frustrierend. Ich dachte nur, super das wird nie etwas, worüber soll ich denn hier schreiben. Alles nur Label. Irgendwann wurde mir allerdings klar, dass ich vollkommen falsch angefangen hatte. Ich hatte über Traditionalität und Authentizität nachgedacht. Ok. Aber vielleicht sollte ich das erst einmal vergessen oder zumindest ausklammern. Etwas sehr verkürzt zusammengefasst: Ich habe daraufhin versucht all das, was mir so selbstsicher als Label vorkam ernst zu nehmen. Dass, egal wer mir da irgendetwas sagt, ich es ernstnehme. Also wenn ‚die oder der da’ jetzt sagt, dass ist traditionell, dann ist es das einfach. Anfangs dachte ich, ich müsste das abgleichen und dann wird sich das irgendwie heraus kristallisieren und annähern an den Begriff der Authentizität oder Traditionalität den ich habe und über den es viel einschlägige Literatur von Fachkollegen gibt. Aber auch das ist eine Sackgasse. Schlussendlich geht es mir nun darum, zunächst einmal all das zu sammeln. Das heißt, eine Ethnographie des kulinarisch zeitgenössisch Traditionellen zu schreiben. Mit möglichst all seinen Facetten.

Welchen Einfluss auf die heutige Forschung erhoffst du dir von deinen Forschungsergebnissen?

In Anbetracht der Tatsache, dass es von einem der wichtigsten Ethnologen Nordamerikas, nämlich Franz Boas, rund 300 Seiten First Nation Rezepte aus der Zeit vor dem Kontakt mit europäischen Händlern gibt, die in der Literatur – bis auf einen Text von Helen Codere –keinerlei Beachtung gefunden haben und, dass es zur zeitgenössischen First Nation Kultur nur Artikel oder Arbeiten gibt, die sich mit dem regressiven Charakter dieser spezifischen kulinarischen Kultur als auch der vielerorts defizitären Ernährung kanadischer First Nations im Allgemeinen beschäftigen, ist meine Antwort recht simpel: Ich würde mir wünschen, dass sich ein tatsächliches Interesse an zeitgenössischer First Nation Küche ‚für sich’ entwickelt. Das heißt in all ihren Facetten und nicht nur hinsichtlich ihrer vordergründigen Nivellierung. Besonders wünsche ich mir mehr internationales Interesse und Anerkennung für das, was jene Gruppe von progressiven First Nation Köchen zu etablieren versuchen; für eine First Nation Haute Cuisine, wie sie bereits in den 90er Jahren in Frankfurt am Main bei den Culinary Olympics genannt wurde. Es gibt dafür jedoch immer noch keine Plattform, keine internationale Anerkennung, es gibt keine Literatur darüber etc. Es ist, als gäbe es sie schlicht weg nicht. Und eben das zu ändern das würde ich mir erhoffen.

Wo siehst du dich in 10 Jahren?

Je nachdem. Entweder würde ich sagen am Schreibtisch, wo es ja viele Ethnologen hin verschlägt, oder aber, wenn das alles hier nichts werden sollte, am Herd in irgendeiner Küche. Oder, wenn ich es mir jetzt aussuchen könnte, dann würde ich sagen beides. Schreibtisch und Herd. Also eigentlich so in etwa wie hier und jetzt.

SEBASTIAN SCHELLHAAS war nach dem Studium der Philosophie und Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main von 2011-12 als Gastkurator am Frankfurter Weltkulturen Museum tätig, wo er die Abendschule „The World in a Spoon“ kuratierte. Er ist Mitglied und seit 2013 Stellvertretender Sprecher der AG Kulinarische Ethnologie der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde. Sein Forschungsinteresse gilt der Kulinarischen Ethnologie, der Symmetrischen Anthropologie sowie der Ethnologie Nordamerikas und Ostafrikas. Feldforschungserfahrung sammelte Sebastian Schellhaas 2009 in Westkenia und 2013-15 in British Columbia. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen Die Welt im Löffel. Kochen – Kunst – Kultur (Hrsg., Kerber 2012) und „Without kuon it is no food!“ Zur Aktualität des Core-Fringe-Leguminosen Models anhand von Veränderung und Stabilität in der Luo-Küche (mit Mario Schmidt, 2012). Seit 2013 promoviert er im Graduiertenkolleg „Wert und Äquivalent“ über kulinarische Traditionen in British Columbia.

Fischöl

Die Bedeutung von Fischöl für das Leben und die Kultur der indigenen Bevölkerung in dieser Region kann man kaum überbetonen. Mit Bezug auf seine goldgelbe Farbe beschreibt es der Haida-Künstler Bill Reid etwa als ‚Sonne‘, die den Menschen im Winter Wärme spendet und ihr Überleben sichert. Es hatte zudem eine ökonomische und infrastrukturelle Bedeutung. So gab es ein ganzes Netz von Handelswegen entlang der Küste und ins Inland, die heute als ‚Grease Trails‘, also ‚Fett- oder Öl-Pfade‘, bekannt sind. Das damals wie heute wohl begehrteste Öl wird aus dem sogenannten Kerzenfisch (Thaleichthys pacificus) gewonnen. Dieser ist so fettig, dass er getrocknet wie eine Kerze brennt.
Foto: Sebastian Schellhaas 2014

Bucht von Fort Rupert bei Sonnenaufgang

Der Pazifische Ozean ist seit Jahrtausenden die wichtigste Nahrungsquelle der indigene Bevölkerung British Columbias. Neben verschiedenen Algen, Meeressäugern und Fisch, spielten die unzähligen, in Ufernähre beheimateten Arten von Meeresfrüchten eine zentrale Rolle für die historische Ernährungsweise. An den Küsten Vancouver Islands und anderer Teile British Columbias heißt es deshalb auch: „When the tide is gone the table is set“.
Foto: Sebastian Schellhaas

„Wild Salmon“, Sage Restaurant, Edmonton, Alberta, 2015

Shane Chartrands (Sage Restaurant, Edmonton, Alberta) Interpretation eines traditionellen Lachsessens. Es handelt sich um einen Sous vide gegarten Lachs, der auf einer konfierten gelben Bete mit Ziegenkäse Infusion und frittierten Kapern liegt. Dazu kommen Lachs-Kaviar und eine Reduktion von Hibiskus und roter Bete. Chartrand bezeichnet seinen Stil als „Progressive Indigenous“. Er gehört zu einer Gruppe von indigenen Köchen, die teils in der Spitzengastronomie ausgebildet wurden und die Möglichkeiten und Grenzen einer zeitgenössischen First Nation Cuisine erkunden.
Foto: Sebastian Schellhaas

Indian Taco

Seit dem ersten Kontakt mit europäischen Seefahrern hat sich die Ernährungsweise der First Nations drastisch verändert. Aus einer gewürz- und kohlenhydratarmen, auf tierischen Proteinen und wilden pflanzlichen Nahrungsmitteln beruhenden Ernährung wurde eine auf Kohlenhydrate konzentrierte, gewürz-, zucker- und salzlastige Frittier- und Anbratküche. Ikonisches Gericht dieser Entwicklung ist der in ganz Nordamerika verbreitete ‚Indian Taco‘. Hierbei handelt es sich um einen frittierten Teigfladen, auf den man erst eine ordentliche Portion Chili con Carne, dann etwas Salat, geriebenen Cheddar Käse und einen Klacks Sour Cream oder Salsa gibt.
Foto: Felix Schmandt

Wurzelknolle einer wilden wachsenden Lilienart, Fort Rupert

Hingegen einer weitverbreiteten Annahme, dass die historischen Ernährungsweis der als Jäger und Sammler klassifizierten First Nations fast ausschließlich auf tierischen Proteinen beruhte, spielten Wurzel- und Knollengewächse eine wichtige Rolle. Dabei wurde diese nicht nur wild gesammelt, sondern systematisch kultiviert. Das Foto zeigt beispielsweise die Wurzelknolle einer auf Vancouver Island heimischen Lilienart, bei der man nur die äußeren Teile der Knolle erntete und die verbleibende Hauptknolle – die sogenannte Großmutter – wieder zurückpflanzte.
Foto: Sebastian Schellhaas

Seeigel

Hat man sich erst einmal durch die stachelige Schale eines Seeigels gearbeitet, gelangt man an dessen essbare Teile. Die orangene, salzig und intensiv nach Jod schmeckende Substanz ist Teil der Geschlechtsorgane des Seeigels. Seeigel sind eine hochgeschätzte Spezialität und werden zudem als traditionelles Heilmittel bei Rheuma eingesetzt.
Foto: Sebastian Schellhaas

Einer der vielen kleinen Seen im Inland von Vancouver Island

Neben dem reichhaltigen Nahrungsangebot des Pazifischen Ozeans beruhte die historische Ernährung der First Nations auf dem, was Flora und Fauna im warmgemäßigten Klima der Nordwestküste im Überfluss zu bieten hatten. Bärenfleisch, Elch, Reh und verschiedene Geflügelarten, aber auch eine Vielzahl von wild wachsenden pflanzlichen Nahrungsmitteln wie saure, süße und bittere Beerensorten, diverse Blattgemüse, Algen, Pilze, Farne und Moose gehörten zum saisonalen Speiseplan. Eine wichtige Rolle spielten außerdem Wurzel- und Knollengewächse wie die unterirdische Frucht bestimmter Lilienarten.
Foto: Sebastian Schellhaas

Blaubeeren, Vancouver Island

First Nations sammelten verschiedene Arten von saure, süße und bittere Beeren wie beispielsweise sogenannte Soapberries. Schlägt man diese zusammen mit etwas Wasser oder wahlweise auch Fischöl auf, ergibt das einen festen, bitter-süßen Schaum, der als Indian Icecream bekannt ist. Hier im Bild sind die auch heute noch überall in British Columbia vorkommenden Blaubeeren zu sehen. Aus diesen und andern Beerensorten machte man Quittenbrot ähnliche ‚Fruchtkuchen‘, die luftgetrocknet oder indirekt geräuchert und so für den Winter haltbar gemacht wurden.
Foto: Sebastian Schellhaas

„Traditional Salmon BBQ“ im Zuge des „Sommer Feast“ in Alert Bay, 2013

Das Grillen von Lachs am offenen Feuer, gehört zu den wenigen historischen Zubereitungsmethoden, die sich bis heute erhalten haben.
Foto: Sebastian Schellhaas

Porchetta-Sandwich im trendigen Stadtteil Gastown, Vancouver

Ein Aufenthalt in Vancouver ist wie eine kulinarische Weltreise. Man findet Restaurants, Imbisse, Food Trucks oder unscheinbare Fensterluken, die Spezialitäten aus allen Teilen der Welt verkaufen. Dabei hat Vancouver nicht nur alle Arten von Ethno-Food zu bieten. Gastronomen greifen die neusten Küchentrends auf und erziehen so den Geschmack der Vancouverites, die über das nötige Kleingeld verfügen. Eines sucht man in Vancouvers Gastronomieszene jedoch vergeblich: First Nation Cuisine. Die wenigen Ausnahmen von dieser Regel – in Vancouver und andernorts an der kanadischen Nordwestküste – sind das Thema meiner Dissertation.
Foto: Sebastian Schellhaas
Menschen | Tun | Dinge

Landschaft und Urbanisierung

„Jede Landschaft stellt sich zunächst als riesige Unordnung dar, die uns die Freiheit lässt, den Sinn auszuwählen, den wir ihr am liebsten geben möchten.“ (Claude Lévi-Strauss)
Menschen | Tun | Dinge Landschaft und Urbanisierung

Landschaft und
Urbanisierung —
Menschen gestalten
(Stadt-) Landschaften

Haben Sie schon einmal Lego gespielt? Dann hatten Sie eines der weltweit 600 Milliarden bunten Plastiksteinchen in der Hand. Das langlebigste und erfolgreichste Thema der Legosteine ist „Lego City“. Seit über 60 Jahren bauen Menschen Städte mit dem ‚Spielzeug des Jahrhunderts‘, das nichts weiter als ein Klötzchen aus Kunststoff ist. Warum ist es diesem Spielsystem gelungen, unter anderem mit Modellstädten die Welt zu erobern? Das Geheimnis liegt darin, dass die einzelnen Legosteine, trotz ihrer eigenständigen Form und Farbe sowie ihres unterschiedlichen Alters, immer zusammen passen. So lässt jeder seiner Vorstellung freien Lauf und baut kreativ an der eigenen Stadt.

Faszination Stadt

Woher kommt diese Faszination zur Schaffung neuer Städte? Heute wohnt über die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Auf die gesamte Menschheitsgeschichte bezogen, ist das Stadtleben jedoch ein relativ neues Phänomen. Die Frage, wo, wann und warum die ersten Städte entstanden, beschäftigt Wissenschaftler seit Jahrhunderten. Was macht eine ‚Stadt‘ überhaupt aus? Wie kam es zu dem sogenannten Urbanisierungsprozess? Manche unterscheiden ein Dorf von einer Stadt, indem sie ersteres als einen Ort der Tradition und letztere als einen Ort moderner Gesetze definieren. Andere halten die Planung der Räumlichkeiten für das wichtigste Indiz. Demnach würde jede Siedlung mit erkennbaren Häuserblocks und einem Straßennetz als Stadt gelten. Wieder andere behaupten, dass Siedlungsgröße, Bevölkerungsdichte, räumliche und gesellschaftliche Arbeitsverteilung eine Stadt ausmachen. Keine dieser Definitionen beschreibt das Wesen der Stadt aber ausreichend, denn natürlich wird selbst in heutigen Städten die räumliche Entwicklung auch von ihren Einwohnern und ebenso von deren Umgebung beeinflusst.Archäologen versuchen anhand einzelner Bauteile und kleinster Fragmente von Haushaltsgeräten oder sogar von Müll – kurz, mithilfe von Überresten materieller Kultur längst vergangener Zeiten – die Frage nach der Eigenart einer Stadt zu beantworten. Auch für Ethnologen ist es schwierig, ganz unterschiedliche Siedlungsformen in die übergreifende Kategorie ‚Stadt‘ einzugliedern. Eine Siedlung einfach als Stadt zu bezeichnen, vernachlässigt ihre inneren sozialen und baulichen Unterschiede. Deshalb bezweifeln manche Fachleute die Möglichkeiten einer allgemeinen Definition von Stadt. Sie glauben, es könne nicht gelingen, den komplexen Gebilden aus Wohngebieten, mehreren dazugehörigen Bereichen und den darin agierenden Menschen mit einer Definition gerecht zu werden.

Landschaft im Wandel, Gesellschaft im Umbruch

Städte entstehen nicht im luftleeren Raum. So wie die Legostadt von den Wänden und Möbeln des Spielzimmers beschränkt wird, zwingt auch die Landschaft den Städten Grenzen auf. In den Geisteswissenschaften wird dieses Umfeld eines von Menschen besiedelten Ortes ‚Landschaft‘ genannt. Was bedeutet das? Erstens: ein Land mit einer einzigartigen Beschaffenheit, die es von den umgebenden Ländern unterscheidet. Zweitens: ein Land, dessen Charakteristika von Menschen geschaffen wurden. Das Wort Landschaft beinhaltet sowohl die physische Umgebung an sich als auch das Bild, welches wir uns von ihr machen und nach dem wir sie formen. Menschen gestalten die Umgebung zwar nach ihrem Willen, müssen sich ihr aber auch anpassen. Dies hinterlässt Spuren im Umfeld einer Siedlung. Landschaften ändern sich als Resultat einer ständigen Wechselbeziehung zwischen Mensch und Umwelt. Städte- und Umweltforscher haben dafür den Begriff ‚Landschaftswandel‘ eingeführt. Forscher können diesen Wandel in einer Region erkennen und Aussagen über die Menschen machen, die ihn verursacht haben. Die Transformation der Umgebung erfordert eine bewusste, vielfach in einem sozialen Netz getroffene Entscheidung. Somit strukturieren auch gesellschaftlich und politisch bedingte Maßnahmen die gebaute Umwelt. Neben der sozialen Stellung der Akteure spielen wirtschaftliche und machtpolitische Faktoren eine große Rolle. In manchen Gesellschaften kann das Geschlecht ein Hindernis sein, Zugang zu den Ressourcen der Landschaft, beispielsweise einem Grundstück für den Anbau, zu erhalten. Durch unterschiedliche Privilegien bei der Landschaftsnutzung und/oder baulichen Veränderungen kommt es zu einer sozialen Schichtung der Gesellschaft.

Mensch- Landschaft- Interaktion, Landnutzung und Urbanisierung

Der Mensch – mit all seinen Bindungen und gesellschaftlichen Strukturen – formt seine Umgebung, wodurch ein Wandel in der Landschaft stattfinden kann. Schließen sich mehre Siedlungen in einer Region zusammen, bilden sie Zentren und gemeinsame Infrastrukturen aus, spricht man von Urbanisierung. Dieser Begriff umfasst die Ausbreitung städtischer Wohnformen und beschreibt die zunehmende Interaktion von Stadt und Land. Dies hat direkten Einfluss auf unseren Alltag und verändert unser Leben. Deswegen ist es immens wichtig, den Prozess der Urbanisierung zu verstehen. Dies kann man nicht allein durch Beobachtung der aktuellen Urbanisierungsvorgänge. Ebenso wichtig ist der Blick in die Vergangenheit, um Muster und Dynamiken dieses Prozesses zu erkennen und richtig beurteilen zu lernen. Vier junge Wissenschaftler des Graduiertenkollegs „Wert und Äquivalent“ teilen ihr Interesse an diesen Themen. Durch ihre Arbeiten tragen sie zum Verständnis der komplexen Beziehungen zwischen Mensch, Landschaft und Urbanisierung bei.

Stadt-Land-Fluss

Am Beispiel unserer Städte kann diese komplexe Beziehung untersucht werden. Elnaz Rashidian betreibt ihre Forschungen hierzu im Gebiet des südwestlichen Iran. Dort entwickelten sich vor ca. 6000 Jahren einige kleine Siedlungen zu dicht bevölkerten, gut vernetzten Kultur- und Wirtschaftszentren – Städte entstanden. Andere Siedlungen schafften jedoch diesen Sprung nicht. Warum war dem so? Rashidian stellt hierbei die Hypothese auf, dass ausschließlich Siedlungen in einem erfolgreichen Gleichgewicht mit ihren Fließgewässern zu urbanen Räumen werden konnten. Dabei steht für sie der Fluss im Mittelpunkt, um den herum unsere Städte entstehen. Denn er konnte Segen, aber auch Fluch sein. Der Fluss spendete Wasser und damit Leben, war Handelsweg und Grenze. Jedoch waren die Städte am Fluss durch Verlagerungen des Flusslaufs, Dürren oder Hochwasser stets verwundbar. Es war also ein System, in dem Fluss und Stadt sich gegenseitig beeinflussten und veränderten. Diese Wechselwirkung untersucht Rashidian mit geoarchäologischen Methoden. Im Mittelpunkt steht die Herausarbeitung übereinstimmender Merkmale für die Stadt-Fluss-Interaktion. Ihre Untersuchung will zum Verständnis der Genese und der frühen Geschichte urbaner Zentren im Großraum Susiana beitragen.

Gestaltete Natur

Die assyrischen Könige schrieben der Urbarmachung wilder Landschaften und der Zähmung von Flora und Fauna große Symbolkraft zu, vermutet Philipp Serba. Nicht nur die Erschließung neuer Anbaugebiete, sondern auch die kultische Stier- und Löwenjagd diente der Machtdemonstration. Es handelte sich um eine durchdachte Inszenierung: sie zeigte Stärke und versicherte das Volk in dem Glauben an den Schutz vor dem Chaos unter der Führung seines mächtigen Königs. Ein monumentales Zeichen von Macht stellte die Gründung neuer Residenzstädte samt der Anlage umfangreicher Garten- und Parkanlagen in bisher wüster Landschaft dar. Die wesentliche Motivation dieses Stadt- und Landschaftsbaus lag in der Propagandawirkung des ‚Erschaffens‘ begründet. Allen voran bot die Neugründung der Stadt Dur Šarrukun (Khorsabad), etwa 16 km nordöstlich von Mosul, für den Assyrerkönig Sargon II. (721-705 v. Chr.) die topographische Möglichkeit einer solchen – ideologisch nutzbaren – Naturgestaltung. Im Rahmen einer virtuellen Rekonstruktion stellt Serba die Parkanlage der Stadt dar – erschaffen einst im Stil der hügeligen und vermeintlich prestigeträchtigen Landschaften Syriens. Sie befand sich unmittelbar vor den Toren der Stadt und konnte von der Palastterrasse aus präsentiert werden. Serba analysiert die visuellen und politischen Bezüge zwischen einer solchen ‚Scheinwelt‘ und der dahinterstehenden Herrscherfigur.

Alles nur Fassade?

Unsere Lego-Fantasiestädte sind oft bunt und ausgefallen. Wir bauen graue Burgen mit roten Fenstern neben weiße Brücken und grüne Häuser mit gelben Dächern. Es scheint realitätsfremd, ist aber nicht so. Die Städte, in denen wir leben, belehren uns etwas Besseren. Hier finden wir gleichfalls die unterschiedlichsten Formen und Farben von Gebäuden nebeneinander. So, wie wir die schönsten Steinchen in der Legostadt an der Vorderseite verbauen, verzieren wir auch die Fronten unserer Häuser mit besonderen Materialien. Denn was sehen wir, wenn wir uns durch eine Stadt bewegen? Es sind die Fassaden, die unser Bild der Stadt prägen. Sie bilden deren Gewand. Dabei weckt die Fassadengestaltung die verschiedensten Gefühle und Stimmungen im Betrachter. Und dies war schon immer so, auch in den antiken Gesellschaften. Elwira Janus thematisiert diese Aspekte anhand der Gebäudefronten römischer Bauwerke in griechischen Städten von etwa 50 v. Chr. bis 300 n. Chr. Durch den gegenseitigen Einfluss und die Vermischung römischer und griechischer Bautraditionen veränderte sich in dieser Zeit auch das Stadtbild. Janus geht dabei der Frage nach, inwieweit die Fassaden Macht, Reichtum, soziale Stellung und persönliche Vorlieben des Besitzers ausdrücken konnten und wie sie in das stadtplanerische Konzept eingebunden waren.

Land bringt Sicherheit

Damit eine Gesellschaft funktionieren kann, müssen Menschen miteinander agieren. Auch in der fiktiven Lego-Stadt gibt es die verschiedensten Typen von Spielfiguren, die in den ihnen zugewiesenen Rollen funktionieren. Diese Funktionen und die daraus entstehenden zwischenmenschlichen Beziehungen prägen unseren Lebensraum von außen und von innen. Die Beziehungsgeflechte, in denen Menschen ihren durch Geschlecht, Herkunft oder Rang bestimmten Platz einnehmen, wirken auf das soziale Miteinander. Landwirtschaft ist eine Form der Interaktion zwischen Menschen und ihrer Umwelt und sie ist aus dieser Perspektive ebenso bei der Gestaltung unseres Lebensraums entscheidend. Martina Cavicchioli erklärt am Beispiel der sozialen Organisation landwirtschaftlicher Arbeit bei den Mossi in Burkina Faso, wie sich in dieser patriarchalisch geprägten Gemeinschaft die geschlechtsbedingte Aufteilung der Ackerflächen auf das Zusammenleben und Wirtschaften innerhalb und außerhalb der Familien auswirkt.

Menschen - Bauen - (Lego-)Stadt

So, wie wir aus kleinen Legosteinen immer wieder neue Fantasiestädte zusammensetzen, nutzen wir stets die gleichen Bausteine, um an unserer Umgebung zu bauen. Wir gestalten unsere Siedlungen und damit unser Leben immer wieder neu. Um jedoch die Konsequenzen unseres heutigen Handelns für die Zukunft abzuschätzen und gegebenenfalls zum Wohle der nachfolgenden Generationen zu steuern, muss die Interaktion von Mensch und Landschaft genauer untersucht werden. Einige Beispiele dieser Interaktion werden durch die folgenden Beiträge begreiflicher.

 

— Martina Cavicchioli, Elwira Marta Janus, Elnaz Rashidian und Philipp Serba

Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

Athen, Korinth, Nikopolis, Patras, Thessaloniki

Menschen | Tun | Dinge Landschaft und Urbanisierung

Alles nur Fassade? —
Wie Gebäudehüllen
die Stadt prägen

Eine Stadt ist in ihrer äußeren Erscheinungsform zunächst ein (Handlungs-)Ort, in dem Bauwerke und Menschen aufeinander treffen und interagieren. Diese Wechselwirkung (von Bauwerk und Mensch) macht diesen Ort erst lebendig. Gebäude, an erster Stelle große öffentliche Projekte und andere architektonische Konstruktionen, stehen jedoch auch in einer engen Beziehung zur Topografie eines Ortes. Sie sind Teil der Stadtlandschaft. Beim Bau von Gebäuden muss nicht nur die Lage im Gelände, sondern auch der Zugang zu wichtigen Ressourcen (beispielsweise Wasser) Berücksichtigt werden. Daneben beeinflussen vorhandene Strukturen wie Straßen und andere Bauwerke auch die Ausmaße der neu angelegten Bauten und ihre Ein- und Ausgänge. Auf der anderen Seite lenken Gebäude durch ihr Volumen, ihre Ausrichtung und Positionierung nicht nur unsere Laufwege sondern auch unsere Blicke. Vor allem ihre äußeren Hüllen, die Fassaden, machen den Stadtraum für uns erfahrbar. Sie sind der nach außen sichtbare Teil der Architektur, der an der Erscheinung des öffentlichen Raumes der Stadt teil hat und gleichzeitig auf unsere Sinne wirkt. Durch ihre visuellen Reize beeinflussen sie auch die  Lebensqualität der Bewohner. Nicht in jeder Umgebung fühlen wir uns gleichermaßen wohl. Eine glatte Glasoberfläche von Hochhäusern kann abweisen oder gar beängstigen, ist aber gleichzeitig auch ein Charakteristikum der heutigen, als modern empfundenen Stadt. Die stark gegliederten Fassaden von barocken Stadthäusern oder Kirchen erscheinen durch ihre Tiefenstaffelung deutlich dreidimensionaler und wecken historische Ehrfurcht. Kleine Fachwerkshäuschen verbindet man hingegen mit Urtümlichkeit und Bodenständigkeit.

Die Fassade als Bühne der Gesellschaft

Die Hüllen der Gebäude sind nicht nur Ausdruck einer baulichen Tradition, sondern auch eine wirksame Inszenierungsfläche für den Bauherren. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Auftraggeber eine Privatperson oder eine öffentliche Institution ist. Jedem Bauprozess, jeder Architektur und ihrer Ausführung geht eine bewusste Entscheidung voraus. Der Entschluss für eine bestimmte Gestaltung resultiert dabei aus unterschiedlichen gesellschaftspolitischen, bautechnischen oder stadtplanerischen Beweggründen. So werden die Architektur, die Tektonik, die Oberflächen (beispielsweise glatte Steinflächen oder stuckierte Ziegel) wie auch das gestalterische Konzept (also Stil, Ornamentik, angebrachte Inschriften und Skulpturen sowie das verwendete Material selbst und Farbgebung) den Vorlieben und Intentionen, aber auch den finanziellen Mitteln der Bauherren entsprechend angepasst und umgesetzt. Gebäude sind somit architektonischer Ausdruck einer Gesellschaft. Heutige Städte sind in ihrer architektonischen Gestaltung eine Ansammlung von Zeitstilen und Epochen. Die meisten Orte existieren seit vielen Jahrhunderten und vergangene Architekten haben ihre Spuren an ihnen hinterlassen. Es finden sich Bauwerke mit den unterschiedlichsten Fassaden. Erst ihre gemeinsame Wirkung auf den Betrachter, sowohl den Bewohner als auch den Besucher, ergibt ein individuelles Bild der Stadt. Doch wie war es in der Vergangenheit? Waren die Bauwerke langjährigen Traditionen unterworfen oder folgten Architekten auch kurzweiligen modischen Erscheinungen? Reagierten Städte, Bauten und Menschen auf neue politische Einflüsse und sind diese Reaktionen in baulichen Veränderungen sichtbar?

Römer in Griechenland

Ab dem 3. Jh. v. Chr. sah sich Griechenland mit der militärischen und politischen Intervention Roms konfrontiert. Die ehemals unabhängig agierenden griechischen Stadtstaaten (Poleis) wurden allmählich als römische Provinzen eingerichtet und ab dem Ende des 1. Jh. v. Chr. in das politische Gebilde des Imperium Romanum eingebunden. Dies wirkte sich nicht nur auf die gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch auf die architektonische Gestalt der einzelnen Städte aus. Mit dem politischen Wandel hielten Neuerungen in der Bautechnik (u. a. Gussmauerwerk) sowie eine größere Vielfalt von Materialien (u. a. Buntmarmore, Ziegel) Einzug in die Architektur Griechenlands. Dies hatte auch Auswirkung auf die Fassaden der öffentlichen Bauwerke und somit auf das Stadtbild. 

Griechische Fassade vs. römische Fassade

Die griechische Architektur ist durch eine massive Steinbauweise gekennzeichnet. Die Außenflächen der Gebäude resultieren hier aus der Konstruktionsweise. Jede Säule, jeder Steinblock hat seine bauliche Berechtigung. Es findet sich kein von der Konstruktion gelöster Schmuck. Beispielweise waren Kapitelle, die meist reich verziert wurden, notwendig um die Last des Daches punktgenau auf die tragenden Elemente, die Säulen, zu verteilen. Ihre Ausschmückung steht somit hinter ihrer Funktion. Beispiele wie der Parthenon oder das benachbarte Erechtheion auf der Athener Akropolis zeigen nur Ornamente, die direkt mit dem jeweiligen, bautechnisch notwendigen Bauglied zusammenhängen (Kapitelle, Säulenbasen, Friese, Decken, Giebel). In der römischen Architektur ist hingegen eine Trennung von Konstruktion und aufgesetztem Schmuck zu beobachten, was bereits aus der orientalischen Architektur bekannt war. Beispielsweise wurde das optisch wenig ansprechende Gussmauerwerk mit großen Steinplatten verkleidet, die bautechnisch und statisch nicht relevant waren. Dies war zudem kostengünstiger als Bauwerke aus massiven Steinblöcken, so dass seltene oder teure Materialien eingesetzt werden konnten, die einem Bauwerk besondere Pracht verliehen. Diese unterschiedliche Bautradition und der andersartige Umgang mit Dekor beeinflusste zunehmend auch die Fassaden der Bauten in griechischen Städten. Als Beispiel sei hier das Odeion (überdachter Theaterbau) des Agrippa auf der Agora in Athen aus dem letzten Drittel des 1. Jh. v. Chr. genannt. Die hohen Wandflächen des Hauptgeschoßes schmückten der Wand vorgelagerte pfeilerartige Elemente, sogenannte Pilaster, mit überdimensionalen korinthischen Kapitellen. Sie waren bautechnisch nicht relevant, strukturierten jedoch die sonst massiv wirkenden Mauern, wodurch sie dem Bau etwas Leichtigkeit verliehen. In Bezug auf die Gliederung der Fassaden fällt bei vielen Bauwerken die Verteilung der Materialien auf tragende (horizontale) und lastende (vertikale) Elemente auf. So sind häufig die Säulen und Treppenstufen als stützende Elemente durch die Verwendung von farbigen Steinsorten deutlich vom weißem Marmor der lastenden und auch dekorierenden Fassadenglieder wie Säulenbasen, Kapitellen und dem Gebälk abgesetzt. Beispielsweise der gräulich-blaue hymettische Marmor der Römischen Agora in Athen aus dem letzten Viertel des 1. Jh. v. Chr.; der bläuliche Marmor am Babbius Monument in Korinth aus tiberischer Zeit (14-37 n. Chr.); der stark geäderte Cippolino Verde aus Euböa an den Säulen und Sockeln der Westfassade der Hadriansbibliothek und der grünliche Verde Antico am Monopteros vor der Attalos Stoa, beide in Athen und um die Mitte des 2. Jh. n. Chr. errichtet. Dieser uns heute extrem erscheinende Kontrast könnte zum Nutzungszeitpunkt der Bauten durch eine farbige Bemalung der weißen Architekturteile abgemildert gewesen sein. Doch zwei Jahrtausende der Witterung (Regen und Sonne im Wechsel) sowie starke Luftverschmutzung haben jegliche Farbe, sofern sie existiert haben sollte, verschwinden lassen.
Ein noch intensiverer Gegensatz entstand durch das Materialpaar Stein und Ziegel. Griechische Städte waren bis zum Ende des 1. Jh. v. Chr., also bis zu dem Zeitpunkt, als die einschneidenden Bauprogramme der Römer begannen, in bisheriger Tradition aus Stein erbaut. Dabei waren die äußeren Wände bei Steinsorten minderer Qualität aus ästhetischen Gründen verputzt. Marmormauern beließ man meistens glatt. Die römische Erfindung des opus caementitium (Gussmauerwerk) mit einer Verschalung aus gebrannten Ziegeln sollte nun immer mehr in die Städte einziehen. Großbauten wie Theater oder Badeanlagen zeigten oft nach außen hin rötliche Backsteinwände, die von Dekorelementen aus Stein unterbrochen sein konnten. Ein wiederaufgebautes Exemplar einer solchen Ziegelarchitektur ist im Odeion von Patras (Beginn der 2. Hälfte des 2. Jh. n. Chr.) zu finden. Heute nutzt man das Odeion für Theateraufführungen und Konzerte. Aber das Erscheinungsbild der Städte zu dieser Zeit war nicht nur durch die Einführung von Innovationen wie neuen Bautypen (z. B. Podiumstempel, Thermen) oder Materialen geprägt. Deutliche Rückgriffe auf die griechische Vergangenheit zeugen von der Wertschätzung der Römer für die architektonischen Errungenschaften der Griechen. In Athen wurde traditionelles Material, vor allem pentelischer und hymettischer Marmor, verwendet. Im Roma-Augustus-Monopteros, einem achtsäuligen Rundtempel auf der Akropolis aus augusteischer Zeit, ist zudem ein deutlicher Rückgriff auf die Dekorelemente der Nordhalle des Erechteions aus der 2. Hälfte des 5. Jh. v. Chr. zu beobachten. In Korinth zeugen Giebelfiguren, die vermutlich am sogenannten Tempel E angebracht waren und aus dem 2. Jh. n. Chr. stammen, deutlich von diesem Bezug auf das griechische Umfeld. Sie haben nicht nur stilistische und kompositorische Ähnlichkeit mit den Parthenon-Skulpturen, sondern wurden auch aus dem gleichen Material, dem pentelischen Marmor, geschaffen.

Römerzeitliche Fassaden in der griechischen Stadtlandschaft

Fassaden prägen den urbanen Raum und das physische Bild der Stadt auf vielfältige Art und Weise. Sie sind Reaktionen auf die topographischen Gegebenheiten. Gleichzeitig können sie bauliche Antworten anderer Gebäude einfordern und verursachen. In Athen ist ein solches Echo im südöstlichen Bereich der Agora auszumachen. Die etwa ein halbes Jahrhundert jüngere Südoststoa nimmt die ionische Säulenordnung der direkt nördlich angrenzenden, deutlich älteren Bibliothek des Pantainos auf. Dadurch wurde, trotz des in diesem Bereich stark ansteigenden Geländes, eine harmonische und einheitliche Front als Begrenzung des Panathenäen-Weges, der städtischen Straßenhauptachse erreicht, der als Prozessionsweg beim Kult der Stadtgöttin Athena genutzt wurde. Die äußeren Gebäudehüllen geben einem Ort ferner ein Gesicht. Mit Hilfe der Fassaden kann auch das Stadtimage, also der Gesamteindruck, den man von einer Ortschaft hat, wenn nicht kreiert, so zumindest beeinflusst werden. Korinth ist in der äußeren Erscheinung geprägt durch vielfältige Steinsorten und den reichen Bauschmuck, der eine hohe wirtschaftliche Kraft der Stadt suggerieren könnte. Der Bauboom, der in der Kaiserzeit dort mit hohem Aufwand betrieben wurde, zeugt zudem einerseits von lokalpolitischer Macht der Gemeinde, anderseits von einer ausgeprägten privaten Wohltätigkeit. Einen völlig anderen Sinngehalt hat dagegen Nikopolis. Die Stadt wurde zu Ehren des Sieges Oktavians (späterer Kaiser Augustus) über Kleopatra und Antonius bei Actium im Jahr 31 v. Chr. erbaut. Diese Ortschaft, eine Neugründung, ist die erste in Griechenland, die nach römischer Manier in Struktur und Materialverwendung (Gussmauerwerk, Ziegel) gebaut wurde – eine architektonische römische Enklave in Griechenland mit politischer Bedeutung.

Fassade als Bestandteil des Alltäglichen

Fassaden sind in ihrer physischen und ideologischen Wirkung auf die Umgebung Teil eines städtebaulichen Konzeptes. Sie lenken die Wahrnehmung des urbanen Raumes und sind von großer Bedeutung für das alltägliche Leben der Menschen. Sie können Gefühle (z. B. Furcht, Geborgenheit) auslösen und führen uns und unsere Blicke durch die Stadt. Sie gehören zu unserem Alltag. Auch wenn wir die Fassaden nicht immer bewusst wahrnehmen, steuern und beeinflussen sie uns mit ihrer Präsenz und Erscheinungsform.

3D-Modell eines Backsteins

3D-Scan und Modell: Nico Serba, Frankfurt University of Applied Sciences

Odeion des Agrippa in Athen, Nordfassade, 2. Phase: Mitte 2. Jh. n. Chr.

Diese Rekonstruktionszeichnung zeigt die Nordfassade des Odeions in seiner zweiten Phase. Der massive Kubus des Oberbaus wird durch Pilaster (der Wand vorgelagerte pfeilerartige Elemente) mit überdimensionalen korinthischen Kapitellen gegliedert. Der ursprüngliche Zugang in Form eines viersäuligen Vorbaus wurde durch eine breite Treppenfront mit Giganten und Tritonen als Dachstützen ersetzt.
© American School of Classical Studies at Athens: Agora Excavations

Frankfurt, nördliches Mainufer

Dieses Bild zeigt deutlich, dass moderne Städte in ihrer architektonischen Gestaltung eine Ansammlung von Zeitstilen und Epochen sind. Rechts sehen wird den 1840–1842 im Stil der italienischen Romanik errichteten Burnitzbau, den barocke Bernusbau (1715–1717) und den  Rententurm (1454–1456). Dahinter erheben sich die Türme der alten Nikolaikirche (15. Jh.) und der Paulskirche (1789 bis 1833). Hinter dem Eisernen Steg ist die 1219 errichtete und später gotisch umgebaute Leonhardskirche zu sehen.  Die Skyline dominieren jedoch die als Inbegriff unserer Zeit geltenden Wolkenkratzer (z. B. Commerzbank Tower fertiggestellt 1997 oder der Main Tower aus dem Jahr 2000).
Foto: Elwira Marta Janus

Römische Ziegelmauer mit sichtbarem Kern aus Gussmauerwerk

An der Bruchstelle ist deutlich der Aufbau der Mauer zu sehen. Der Kern aus opus caementitium (Gussmauerwerk: Steine, Sand, gebrannter Kalkstein, Puzzolane) ist verschalt mit gebrannten Ziegeln im Mörtelverbund. Solche Mauern konnten zusätzlich verputzt oder mit Steinplatten verkleidet worden sein.  Die blanke Backsteinmauer gilt jedoch als typisches Merkmal der römischen Bauweise.
Foto: Franziska Lang

Südoststoa in der Athener Agora, Mitte 2. Jh. n. Chr.

Gezeigt ist der Grund- und Aufriss der Stoa. Das steil ansteigende Gelände bedingte eine Zweiteilung des Baus. Eine Treppe innerhalb des Säulenganges verband diese Gebäudeteile miteinander. Weitere Treppenstufen und Sockel ermöglichten einen Niveauausgleich an der mit ionischen Säulen versehenen Straßenfront.  Dieses Beispiel zeigt deutlich die Anpassung einer Fassade an die topographischen Begebenheiten des Standortes.
© American School of Classical Studies at Athens: Agora Excavations

Innenhofkolonnade der Römischen Agora in Athen, Ende 1. Jh. v. Chr.

Säulen und Stufen: hymettischer Marmor


Basen, Kapitelle, Gebälk: pentelischer Marmor

Quelle: Ephorate of Antiquities of Athens
Copyright: © Hellenic Ministry of Culture and Sports/Archaeological Receipts Fund
Foto: Elwira Marta Janus

Bibliothek des Pantainos mit umliegenden Gebäuden, um 100 n. Chr.

Die Rekonstruktionszeichnung zeigt die Westfassade der sog. Pantainos-Bibliothek und umliegende Bauten (links: Attalos-Stoa, um 150 v. Chr. und Torbogen, 2. Jh. n. Chr.; rechts: Südoststoa, Mitte 2. Jh. n. Chr. ). Die Fassade aus ionischen Säulen wurde, ähnlich wie später bei der Südoststoa, durch Substruktionen und Treppen dem ansteigenden Gelände angepasst. Zusammen mit dieser deutlich jüngeren Stoa bildete die Bibliothek eine harmonische und einheitliche Front als Begrenzung des Panathenäen-Weges.
© American School of Classical Studies at Athens: Agora Excavations

Westfassade der Hadriansbibliothek in Athen, Mitte 2. Jh. n. Chr.

Säulen und Sockel: Cippolino Verde aus Euböa


Basen, Kapitelle, Gebälk und Wandorthostaten: pentelischer Marmor

Quelle: Ephorate of Antiquities of Athens
Copyright: © Hellenic Ministry of Culture and Sports/Archaeological Receipts Fund
Foto: Elwira Marta Janus

Peirene – eine Fassade verändert sich

© Graduiertenkolleg Wert und Äquivalent, Goethe-Universität Frankfurt

Animation: Die InformationsGesellschaft mbH

Menschen | Tun | Dinge Landschaft und Urbanisierung

Interview Elwira Marta Janus

Stell dir vor, du erklärst einem Laien vor Ort dein Promotionsthema. Was sagst Du?

Ich beschäftige mich mit der Frage, ob und wie Fassaden von Gebäuden auf ihre Umgebung, d.h. andere Gebäude, Plätze und die betrachtenden Menschen wirken. Anders gesagt, wie sie das Bild, das wir von einer Stadt haben oder ihr geben wollen, beeinflussen. Ich arbeite dabei unter sehr spannenden Bedingungen, da ich römische (also eigentlich fremde) Gebäude in griechischen Städten untersuche und zwar in einer Zeit als Griechenland unter der Vorherrschaft Roms weilte, besonders in der Zeit von ca. 50 v. Chr. bis 300 n. Chr. Spannend ist dies, da es sowohl alte Orte mit Neubauten als auch neu gegründete Städte gibt.

Wie gehst du dabei vor? (Methoden/Werkzeug, etc.)

Es ist schwierig antike Gebäude, die uns oft nur in Fundamenten oder zerstreuten Resten des Oberbaus bekannt sind, so zu untersuchen, dass man auch die Intention und Wirkung ihres Äußeren erkennen könnte. Aus diesem Grund arbeite ich nicht nur mit Plänen, vorhandenen Rekonstruktionszeichnungen, Beschreibungen antiker Autoren und Grabungsberichten, sondern reise auch vor Ort. Dies ist besonders wichtig, da man nur an Ort und Stelle die topographischen Begebenheiten, in die die Bauten eingebettet waren sowie Sichtachsen und Laufwege, nachvollziehen kann. Natürlich sind auch die Materialien aus denen die Gebäude erbaut waren, sei es Ziegel oder Stein, wichtig für meine Untersuchung. Und die erhaltenen Stücke in ganzer Größe, Farbe und den haptischen Eigenschaften zu sehen und mit ihnen zu arbeiten, erlaubt als Forscher einen neuen Blick auf den Untersuchungsgegenstand.

Gab es Momente der (negativen/positiven) Überraschung während deiner Forschung?

Literaturarbeit ist oft mühsam und zeitaufwendig. Feldforschung ist hingegen eine willkommene Art, eigene Ideen nachzuprüfen oder neue Einfälle zu erhalten. Die Zusammenarbeit mit Kollegen ist dabei immer etwas Besonderes. Nachhaltig beeindrucken mich auch immer wieder die oft riesigen und prächtigen Bauten selbst, die ohne unsere technischen Hilfsmittel von den damaligen Menschen errichtet worden sind. Aber ein Aufenthalt im untersuchten Gebiet ist auch immer Begegnung mit den heutigen Menschen. Zu den positivsten Begebenheiten während meiner Griechenlandaufenthalte zählen die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Griechen. Als ich einmal mit dem Auto stecken geblieben bin und zwar auf einem Feldweg, kamen mir ein Ehepaar und ein Schäfer prompt zu Hilfe und zusammen befreiten wir mein Fahrzeug aus dem großen Loch. Als Dank verlangte der Ehemann von mir zwei Wangenküsschen, wobei die Ehefrau belustigt lachte.

Welchen Einfluss auf die heutige Forschung erhoffst du dir von deinen Forschungsergebnissen?

Ich versuche in meiner Arbeit die Fassaden von Gebäuden nicht nur auf ihren Bauschmuck hin zu untersuchen, wie es bisher üblich war oder sie zu rekonstruieren. Die Untersuchung soll ein ganzheitliches Bild vom Bau in der Stadt ergeben. Das bedeutet, dass die Bauwerke innerhalb des Stadtplanes nicht nur als Grundrisse sondern auch mit ihrem Volumen und ihrer beabsichtigten Wirkung in Erscheinung treten sollen. Ich erhoffe mir, dass meine Arbeit mit ihrem methodischen Konzept einen neuen Blick auf die antike Stadt- und Fassadenforschung eröffnet.

Wo siehst du dich in 10 Jahren?

In 10 Jahren würde ich gerne weiterhin in der archäologischen Forschung tätig sein. Mir ist aber bewusst, dass die vermehrte Stellenknappheit und die begrenzten Ressourcen der Geisteswissenschaften eine große Hürde sein könnten. Trotzdem werde ich versuchen durch Weiterbildung, Auslandsaufenthalte und Kontaktpflege mit anderen Forschern auch künftig als Archäologin aktiv zu sein.

ELWIRA MARTA JANUS  studierte Klassische, Vorderasiatische und Christliche Archäologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Im Laufe des Studiums nahm sie an Ausgrabungen und archäologischen Praktika in Deutschland, Österreich und Syrien teil. Zur Promotion im Graduiertenkolleg „Wert und Äquivalent“ wechselte sie 2013 an den Fachbereich Klassische Archäologie der Technischen Universität Darmstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich antiker Architektur und Stadtplanung. Im Rahmen ihres Promotionsprojektes absolvierte sie zwei Forschungsaufenthalte in Griechenland, während der sie empirische Daten für ihre Dissertation erhob.

Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

Susa (heutiger Name Shush), Ahwaz (Ahvaz), Dezful und Shushtar, Iran

Menschen | Tun | Dinge Landschaft und Urbanisierung

Stadt-Land-Fluss —
Das ewige Spiel vom
Dreieck des Lebens

Eine Stadt ist nicht nur ein Ort von Straßen und Geschäften, sondern der Mittelpunkt eines urbanen Raumes. Dieser besteht aus einer Gruppe von Gemeinden, Dörfern, Werkstätte-Bereichen und Infrastrukturen, die eng zusammenarbeiten und voneinander abhängen. Sie beliefern sich gegenseitig mit Produkten, beschützen sich vor Gefahren und helfen sich bei der ständigen Weiterentwicklung. Dieses ganze Zusammenspiel hat eine Bühne: die Landschaft.

Ort des Geschehens

Dabei hat jede Landschaft Besonderheiten, die sie für bestimmte Zwecke attraktiv machen. Ein urbaner Raum kann nicht überall entstehen. Dazu muss die Landschaft einiges leisten können: Der Boden muss für Landwirtschaft und Viehzucht optimal sein; ein sicherer Zugang zu benachbarten Regionen ist notwendig; außerdem müssen günstige Transportwege für Handelswaren vorhanden sein; das wichtigste ist aber eine völlige Kontrolle über sichere Wasserquellen. Nur wenn all diese Faktoren zusammen kommen, ist Urbanisierung möglich. Urbanisierung ist ein Prozess der allmählichen Entwicklung, während ländliche Siedlungen zu Städten werden und gemeinsam ihre Landschaft verändern. So entsteht urbaner Raum. 

Zeit des Geschehens

Dieser Prozess hat nicht auf der ganzen Welt gleichzeitig angefangen. Im Vorderen Orient begann die Urbanisierung bereits vor etwa sechstausend Jahren. Dies fanden Archäologen heraus, indem sie die fortschreitende Entwicklung von Siedlungen im Laufe der Jahrtausende zurückverfolgten. Dadurch erkannten sie einige Elemente von heutigen Städten in den Ruinen der damaligen großen Siedlungen wieder. Zu etwa der gleichen Zeit wurde die ‚Schrift‘ erfunden und für Verwaltungszwecke eingesetzt. Es ist noch nicht klar, ob bei diesen beiden sehr wichtigen Schritten der Menschheit einer die notwendige Ursache des anderen war – ob also z.B. die Schrift erforderlich war, um Siedlungen in Stadtgröße zu ermöglichen, oder ob sie nur zufällig zur gleichen Zeit, aber unabhängig voneinander entstanden. Sicher ist, diese beiden Entwicklungen beeinflussten sich gegenseitig. Allerdings ist die Schrift nur eine von vielen Erfindungen, die mit der Urbanisierung auftritt. Eine andere ist die ‚Kanalisierung‘ zur Wasserversorgung, worauf keine Stadt verzichten kann. Noch heute kann man sich keine Stadt ohne ein ausgedehntes System von Wasser- und Abwasserkanälen vorstellen. Aber Kanäle brauchen ständige Kontrolle und bedürfen stets der Verbesserung und Sanierung. Für manche Forscher gilt die Kontrolle über Wasserkanäle sogar als ein so wichtiger Faktor, dass sie diese für die eigentliche Ursache der Herausbildung von Elitenherrschaft, Systemen der Verwaltung und sogar der ersten politischen Einheiten halten.

Das ewige Spiel

Um das Zusammenspiel der Stadt und ihrer Landschaft zu begreifen, muss der Prozess der Urbanisierung verstanden werden. Aber wie kann man die Urbanisierung erfassen? Die Antwort lautet: Man muss ihre Interaktion mit der Landschaft studieren. Da diese beiden einen wechselseitigen Einfluss aufeinander haben, kann man die Eine verstehen, indem man die Andere erforscht. Man kann zum Beispiel Spuren von Kanalsystemen (oder von anderen Wasserversorgungsnetzen) in einer Region unter die Lupe nehmen, um dadurch die umgebenden Siedlungen besser zu verstehen. Umgekehrt kann man von der Position einer Siedlungsgruppe ausgehend die Existenz eines verschwundenen Kanalsystems feststellen. In beiden Beispielen muss der Archäologe über sehr gute Vorkenntnisse zu der Landschaft verfügen, die er untersucht. Außerdem sollte er sich mit der Siedlungsgeschichte dieser Region auskennen. Sowas kann am besten ein Geoarchäologe, denn er hat ein Wissen in beiden Gebieten. Deswegen kann er sich auch mit Paläologen, Archäobotanikern und Hydrologen verständigen, um eine Landschaft und deren Siedlungen zu studieren.

Die Spielregeln

Doch wie erkennen Wissenschaftler die Überreste eines Kanals? Einige antike Kanalsysteme sind heute noch aktiv, was ihre Identifizierung relativ leicht macht. Andere sind es aber nicht mehr. In den meisten Fällen findet man diese durch eine Geländebegehung. Sie sind außerdem auf Luftbildaufnahmen und Satellitenbildern zu erkennen. Aber manchmal ist es nicht so einfach, ein lang vergessenes Wassersystem wiederzufinden. Die Spuren auf der Oberfläche verschwinden, weil sich die Bodennutzung mit der Zeit verändert. Wo früher eine Siedlung war, wird nun Landwirtschaft betrieben. Antike Wälder werden zu Weiden. Dämme werden gebaut und Wasser wird umgeleitet. Allmählich trocknen die alten saisonalen Gewässer aus, während sich neue bilden. Wegen neuer Bodennutzung verändert sich die Sedimentation auf der Oberfläche. In solchen Fällen bleiben Spuren von alten Wasserversorgungssystemen unter neuem Boden verborgen. Man kann sie nur wiederfinden, indem man die Sedimentation an bestimmten Orten senkrecht untersucht, denn Gewässer hinterlassen bestimmte Sedimente, die für Fachleute erkennbar sind. 

Die Hauptfigur

Sand ist im Vergleich zu Ton und Schluff ein grobes Korn. Er bildet sich durch Wind- oder Wassererosion und wird meistens anderswohin transportiert und abgelagert. Sand ist für die geoarchäologische Untersuchung sehr hilfreich. Zum Identifizieren längst verschwundener Fließgewässer ist er geradezu notwendig. Man kann seine Herkunft durch seine Zusammensetzung feststellen. Am wichtigsten ist jedoch, dass man ein Sandkorn sicher und einfach datieren kann. Bei der Untersuchung einer Sandschicht kann der Geoarchäologe also die Existenz und Größe eines verschwundenen Fließgewässers feststellen, seine mögliche Quelle erkennen und sogar sein Alter herausfinden. Solche Schichten finden sich heute in 5 Meter Tiefe und zeigen eindeutige Spuren von alten Fließgewässern, obwohl heute dort keine mehr vorhanden sind. Es gibt aber auch weitere Indizien für alte Gewässer, die von Geoarchäologen untersucht werden: Wasser verursacht physische und chemische Veränderungen im Boden. Zum Beispiel verliert der Boden bei Stauwasser seine Erze wie Eisen, Kupfer und Magnesium und verfärbt sich dadurch blau-gräulich. Wenn sich auf der Oberfläche Pflanzen befinden, kann diese Stauwasserschicht auch zu Turf werden. Solche Schichten kann man daher auch indirekt durch ihre Pflanzen- und Bakterienreste datieren.

Das Dreieck des Lebens

Dies alles sind Beispiele, wie Fachleute die Landschaft einer Siedlung an einem Punkt ihrer Siedlungsgeschichte erforschen können. Nimmt man mehrere solcher Untersuchungen aus unterschiedlich alten Sedimenten zusammen, lässt sich der Landschaftswandel rekonstruieren. In einem weiteren Schritt werden so mehrere markante Ereignisse sichtbar, die an bestimmten Zeitpunkten die Landschaft stark verändert haben. Verschwundene oder zerstörte Wassersysteme, getrocknete Kanäle und Indizien für Dürrephasen kann man dann mit den archäologischen Daten derselben Siedlung vergleichen. So werden Wendepunkte in deren Geschichte und die Ursache für die meisten großen Veränderungen gefunden. Eine dieser großen Veränderungen kann Urbanisierung sein. Zur Urbanisierung kommt es, wenn eine Siedlung und die umgehende Landschaft sich in eine gemeinsame Richtung weiterentwickeln. So werden Städte gebaut und urbane Regionen um sie herum gebildet. Auf der anderen Seite gibt es auch Beispiele für eine De-Urbanisierung. In diesem Fall entwickelt sich der bereits bestehende urbane Raum nicht mehr weiter, ja er verschwindet sogar. Manchmal passiert dies aus politischen Gründen, aber meistens ist ein negativer Landschaftswandel dafür verantwortlich, wenn die Interaktion zwischen Landschaft und Siedlung aus dem Gleichgewicht gerät. Es dauert bisweilen Jahrhunderte, dieses Gleichgewicht wieder herzustellen. In einigen Fällen ist es überhaupt nicht mehr möglich, da die Landschaft zu sehr verändert wurde. So werden Städte zu Ruinen, Kanäle trocknen allmählich aus und urbane Räume geraten in Vergessenheit. Die Landschaft ändert sich mit der Zeit und verbirgt so die Spuren eines alten Dreiecks von Mensch, Siedlung und Landschaft durch ein neues; bis Geoarchäologen kommen und diese alte Bühne des ewigen Spiels wieder auffinden.

Sandkörner

Grober Buntsand - der Gegenstand dieser geoarchäologischen Untersuchung.
Foto: Elnaz Rashidian
Menschen | Tun | Dinge Landschaft und Urbanisierung

Interview Elnaz Rashidian

Stell dir vor, du erklärst einem Laien vor Ort dein Promotionsthema.

Was sagst Du?

Das muss ich mir tatsächlich nicht mal vorstellen. Ich wurde schon oft gefragt, was ich da bitte um Himmels willen mache. Von dem sehr netten Herrn, der uns damals vor Ort rum gefahren hat, zum Beispiel warum ich stundenlang zum Horizont gucke oder Erde in den Mund nehme. Da musste ich ihm das irgendwie so erklären, dass er es versteht. Ich habe ihm gesagt, dass ich die Wechselbeziehung zwischen Fluss und Siedlung untersuche, indem ich im Dreck buddele und versuche die Überreste alter Fließgewässer aufzuspüren, - Sand, Schotter, Geröll, alles was eben nicht mehr auf der Oberfläche zu sehen ist -, um diese dann mit der Siedlung in Verbindung zu bringen. Ich weiß nicht ob er das verstanden hat, aber danach hat er Ruhe gegeben.

Wie gehst du dabei vor?

Es gibt verschiedene Methoden sich einer archäologischen Frage anzunähern. Ich nehme die geoarchäologische Methode. Das bedeutet, ich habe eine archäologische Frage, die ich versuche mit Hilfe der Geowissenschaften zu beantworten. Ich habe verschiedene Datenquellen wie zum Beispiel Luftbildaufnahmen und Satellitenbilder, die in einem Zeitraum von über sechzig Jahren gemacht worden sind. Sie zeigen deutlich, wie die Landschaft, wie die Oberfläche sich geändert hat. Und dann habe ich auch meine Bohrpunkte, das heißt ich bohre senkrecht in den Boden an ausgewählten Stellen, und gehe dann meterweise runter und gucke wie sich die Sedimentation verändert hat. Zudem gibt es dann noch die Siedlungen, die archäologisch erfasst sind. Da habe ich archäologische Beweise dafür, wie lange und in welcher Zeitspanne sie bewohnt waren, was für eine Art Siedlung sie waren: ein kleines Dorf, ein größeres Anwesen, eine Kleinstadt? Dann bringe ich die beiden Seiten miteinander in Verbindung und versuche herauszufinden, wie die Landschaft zu der Zeit ausgesehen haben könnte, als diese Siedlung ihre Blüte erlebte. Meine Frage ist ja, wie manche Siedlungen es geschafft haben zu Städten zu werden und andere eben nicht. Ich interessiere mich also sozusagen für die Urbanisierung von Vorgestern. Urbanisierung selbst ist ja ein Prozess, der seit er angefangen hat, nie wieder aufgehört hat, nur die Schauplätze dieses Prozesses haben sich gewandelt – und das bis heute. Das fing an vor 6.000 Jahren zum Beispiel ungefähr in der Region, in der ich arbeite, im Südwesten Irans. Damit ich meine Promotion aber in drei Jahren fertig kriegen kann, beschränke ich mich hier auf die zwei anfänglichen Jahrtausende. Seit mehr als 5000 Jahren gibt es dort bereits Schriftquellen. Man kann auch diese antike Literatur nutzen. Aber was ich nutze, ist die Fachliteratur. Also die Grabungsberichte, die Geländebegehungen, die die anderen im Laufe der letzten 150 Jahre gemacht haben. Archäologie hat eben eine sehr reiche Tradition in dieser Region. 

Gab es Momente der Überraschung während deiner Forschung?

Es gab ganz viele Überraschungsmomente in meiner Arbeit. Ich bin jetzt in der Mitte des dritten Jahres. Und da ich mein ganzes Forschungsprojekt allein auf die Beine gestellt habe und alles selbst machen musste, habe ich ganz viele Niederlagen erlebt, aber es haben sich mir auch ganz viele andere Wege gezeigt, die ich dann weiter gegangen bin. Es ist immer wichtig zu wissen: Jede negative Überraschung hat auch was Positives, was man aber vielleicht erst später herausfindet. Ich kann ganz viele Geschichten davon erzählen. Zum Beispiel musste ich mir ein Bohrgerät ausleihen für meine Arbeit, das einzige Bohrgerät dieser Art im Iran. Das war eine große Verantwortung. Ich habe ein Haufen Geld für die Ausleihe gezahlt. Und ich konnte mir die Techniker nicht leisten. Deswegen habe ich das selber gemacht, weil ich damit ein bisschen Erfahrung hatte. Unser Gerät ist irgendwann kaputt gegangen, vor Ort auf dem Gelände, weil die Bohrstange im Boden stecken geblieben ist. Dann mussten wir ein Loch buddeln um die Bohrstange rauszuholen, weil es aus Edelstahl und sehr teuer war. Nicht zu ersetzen. Und das war mitten in einem alten Flussbett, natürlich im Sand. Es hatte einen sehr hohen Grundwasserspiegel und das bedeutet, dass unser Graben sehr schnell zu einem Swimmingpool wurde. Die fünf Arbeiter und ich standen mehrere Stunden lang bis zum Hals in Sand und Wasser und haben versucht diese Bohrstange, die dann auch irgendwann in Sand und Wasser verschwunden war, herauszuholen. Das war eine sehr negative Erfahrung, sehr anstrengend. Danach mussten wir vor Ort jemanden finden, der auch das Gerät für uns repariert. Da war ich sehr enttäuscht. Ich habe gedacht, jetzt ist das Projekt in die Hose gegangen. Aber dann haben wir durch einen Zufall, durch ein Wunder, wirklich jemanden gefunden, einen Iraki der seit dreißig Jahren im Iran wohnt. Durch den Iran-Irak-Krieg kam er dorthin. Er hatte tatsächlich Erfahrung mit solchen Geräten und konnte es für uns innerhalb von einem Tag reparieren, sodass ich am nächsten Tag bereits weitermachen konnte. Und dadurch haben wir ihn kennengelernt. Er begleitete uns ein paarmal auf dem Gelände und hat uns Tipps gegeben, damit das nicht nochmal passiert. Sein Einsatz hat wirklich meine Arbeit erleichtert. Das war so mein spezieller Moment der Überraschung. Ein anderes Überraschungsmoment ist mir auch sehr wichtig. Meine Arbeiter haben es irgendwie so verstanden, dass ich glücklich bin, wenn wir Sand finden. Dann haben sie immer total laut gejubelt, wenn sie Sand ausgebohrt haben. Irgendwann war es aber so, dass ich einen Punkt ausgesucht habe und an dem haben wir gebohrt und es war sehr spät am Abend und sie waren seit 14 Stunden auf den Beinen und wirklich erschöpft. Im dritten Meter haben wir auf einmal so eine Kulturschicht entdeckt. Die Arbeiter hielten nix davon, sie haben es einfach nicht so erkannt, weil sie ja kein Auge dafür hatten. Ich habe auf einmal gesehen, dass da Keramikstücke, Ziegelbruchstücke, Steingeräte drin waren und habe laut geschrien. Sie waren von mir überrascht und ich wiederum von dem Befund, da an dieser Stelle keine Siedlungen in der Fachliteratur bekannt waren. Wir haben später herausgefunden, dass dieses Maisfeld vor kurzem eingeebnet worden ist. Es war eine kleine Siedlung gewesen und der Landbesitzer hat es ohne Erlaubnis der Regierung eingeebnet und geackert. Das heißt er hat eine antike Stätte zerstört und er war dabei den Rest auch kaputt zu machen. Ich habe es gemeldet, weil es gegen das Gesetz ist. Wir konnten dann diese Siedlung tatsächlich in das lokale Kulturerbenregister eintragen. Und das habe ich im Namen meines jüngsten Arbeiters gemacht, weil er einfach sehr viel dazu beigetragen hat. Er ist jetzt so stolz darauf. Er hat Fotos gemacht mit der Keramik auf dem Boden und zeigte es seinen ganzen Familienmitgliedern. Er sagt ständig, dass er auf der Suche nach Sand eine verlorene Stadt wiedergefunden hat.

Welchen Einfluss auf die heutige Forschung erhoffst du dir von deinen Forschungsergebnissen?

Ich hoffe, dass ich durch meine Arbeit ein Vorbild bin. Dass man Geoarchäologie sehr gut betreiben kann, indem man Archäologen so ausbildet, dass sie auch die Geowissenschaften beherrschen. Man muss dann nicht notwendigerweise Geowissenschaftler von draußen anheuern, um archäologische Stätten zu untersuchen. Meistens fehlt den Archäologen das nötige Vorwissen, und den Geowissenschaftlern wiederum die archäologische Perspektive. Aus diesem Grund reden Archäologen und Geowissenschaftler manchmal aneinander vorbei, können nicht miteinander kommunizieren. Aber wenn ein Archäologe auch das nötige Wissen hat, also ein Geoarchäologe ist, dann kann er tatsächlich sehr gut mit anderen weiter arbeiten. Ich hoffe, dass ich durch meine Arbeit einfach zeigen kann, dass Archäologen in der heutigen Zeit mit Archäologie alleine nicht mehr weiter kommen. Dass sie die Naturwissenschaften brauchen, um zu erreichen, was sie eigentlich erreichen wollen. Ich erhoffe mir diesen Einfluss. Natürlich habe ich auch konkrete Beweise für meine archäologische Fragestellung gesammelt. Ich habe tatsächlich sehr gute Erkenntnisse gewonnen, die ich bald veröffentlichen kann. Das sind so Basisarbeiten. Da können andere Kollegen dann drauf  bauen und neue Interpretationen liefern.

Wo siehst du dich in 10 Jahren?

Eine sehr schwierige Frage. Wo ich mich sehen möchte und wo ich tatsächlich sein werde, könnte weit voneinander entfernt sein. Es ist sehr schwierig, geradezu eine Knochenarbeit, als ausländische Frau in der Wissenschaft international Karriere zu machen, ohne, dass man sehr stark darunter leiden muss, auch privat. Ich hoffe, dass ich mir in 10 Jahren einen guten wissenschaftlichen Ruf erarbeitet habe. Ich hoffe, dass ich deswegen auf einer langfristigen Stelle sitze, als ein aktives Mitglied in einem Forschungsinstitut, wo ich dann in verschiedene Projekte eingeladen werde und mit ganz vielen Menschen mit verschiedenen Fragen arbeiten kann und denen helfe, ihren Antworten näher zu kommen. Ob das tatsächlich passiert, weiß ich natürlich nicht. Wie gesagt, das erfordert eine gewisse Menge an Chancen und Möglichkeiten, die sich manchmal eben nicht ergeben. Besonders als Frau ist es eine Herausforderung, sowohl in der Wissenschaft Karriere zu machen als auch eine Familie zu gründen. Es ist auch sehr wichtig, dass man soziale Kompetenz hat für eine Karriere. Ich komme ja aus einem anderen Land und ich habe eine andere Mentalität und muss mich hier  anpassen. Ja, also ich hoffe, dass ich in 10 Jahren da bin, wo ich sein möchte, aber das werden wir mal sehen. Ich werde mein Bestes dafür geben.

ELNAZ RASHIDIAN studierte Archäologie, Geowissenschaften und Geoarchäologie in Teheran und Marburg. Währenddessen nahm sie an Ausgrabungen im Iran, in der Türkei, sowie in Österreich und Deutschland teil. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich interdisziplinärer Archäologie, Archäometrie und Landschaftsarchäologie. Seit 2008 leitet sie die Arbeitsgruppe Mineralogie in der Nationalen Akademie der Wissenschaften Irans und schreibt Beiträge für die „Enzyklopädie der traditionellen Heilkunde Irans“. 2011 war sie Mitglied des Marburger Tauchvereins und wirkte bei einem Projekt der Unterwasserarchäologie mit. Seit 2013 promoviert sie in der Archäologie und Kulturgeschichte des Vorderen Orients. Im Rahmen ihrer Promotion im Graduiertenkolleg „Wert und Äquivalent“ führte sie im Jahr 2014 eine Feld forschung im Südwesten Irans in zwei Phasen durch. Die dabei gewonnenen Daten bilden die Grundlage ihrer Dissertation.

Sandgeschichte

Auf den ersten Blick kann man sich kaum in diesem heute versalzten und trockenen Ödland eine blühende Stadt, umgeben vom Ackerland, vorstellen. Aber die Baustrukturen aus Backstein an erodierten Stellen des riesigen Hügels erzählen eine andere Geschichte. Nur vier Meter unter der heute spröden Oberfläche sieht es ganz anders aus. Spuren einer regelmäßigen Lehm-Sand-Ablagerung mit rotem Mergel aus fernen Bergen weisen auf eine völlig andere Landschaft vor Jahrtausenden hin, als hier noch ein Fluss mitten in der urbanen Siedlung zuhause war.
Fotos: Elnaz Rashidian 2014

Sandschicht in 50-facher Vergrößerung

Diese Sandschicht liegt etwa 6 Meter unter der heutigen Oberfläche eines Maisfeldes in der unmittelbaren Nähe der Ruinen einer antiken Stadt. Solche Schichten zeigen eindeutige Spuren von alten Fließgewässern, obwohl heute dort keine mehr vorhanden sind.
Foto: Elnaz Rashidian

Bohrkerne

Vor allem die Zusammensetzung - das Verhältnis von Sand zu Lehmboden - ist ausschlaggebend. Haben wir zum Beispiel im fünften Meter Tiefe Braunerde, die allmählich in eine Buntsandschicht wechselt (oben), kann es sich um die natürliche Füllung eines verlassenen Kanals handeln. Stellt man mehrere Wechselschichten mit Rostflecken fest (unten), handelt es sich wohl um eine turbulente Wasserschwankung. Vielleicht ein Flussarm?
Fotos: Elnaz Rashidian 2014

Ausgewählte antike Städte im Vorderen Orient

Grafik: Martina Miocevic, nach Kartierung von Elnaz Rashidian

Pflanzenreste in einer Stauwasserschicht in 50-facher Vergrößerung

Diese Pflanzenreste befinden sich mitten in einer Stauwasserschicht etwa 9 Meter unter dem heutigen Oberboden, wo heute eine Landstraße neben den Ruinen einer antiken Stadt verläuft.
Foto: Elnaz Rashidian

Bohrer

Ich nutze ein Bohrgerät . Damit gelingt ein seltener Einblick in die Landschaftsgeschichte: wir sehen Orte, die durch einen Landschafswandel eine spannende Urbanisierung und De-Urbanisierung durchlebten.
Foto: Elnaz Rashidian 2014

Typische Gewässersedimentation verborgen unter der heutigen Landschaft

Spuren von alten Wasserversorgungssystemen, die unter neuem Boden verborgen sind, kann man nur wiederfinden, indem man die Sedimentation an bestimmten Orten senkrecht untersucht, denn Gewässer hinterlassen bestimmte Sedimente, die für Fachleute erkennbar sind. Diese Abbildung zeigt eine typische Gewässersedimentation, die unter der heutigen Landschaft verborgen liegt.
Foto: Elnaz Rashidian

Sand

Buntsand in all seinen Größen (grob, mittel, fein) ist Gegenstand meiner geoarchäologischen Untersuchung. Sand erzählt immer seine Geschichte: wo er herkam und wie er dorthin gelangte, wo wir ihn Jahrtausende danach noch immer auffinden können. Wer gut zuhört, kann dadurch über die Geschichte unserer Städte wertvolle Erkenntnisse gewinnen.
Fotos: Elnaz Rashidian 2014

Stadt-Land-Fluss: Das Spiel

(c) Graduiertenkolleg Wert und Äquivalent, Goethe-Universität Frankfurt. Animation: Die InformationsGesellschaft mbH

Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

Khorsābād (etwa 16 km nordöstlich von Mosul), Irak

Menschen | Tun | Dinge Landschaft und Urbanisierung

Gestaltete Natur —
Herrschaftliche
Machtdemonstration
in Dur Šarruken

Innerhalb der neuassyrischen Zeit (911 v. Chr. – 612 v. Chr.) entstand im Vorderen Orient eines der mächtigen Großreiche der Weltgeschichte. Für die assyrischen Könige waren dabei die Urbarmachung wilder Landschaften, sowie die Ausgestaltung von Flora und Fauna in ihrer Symbolkraft von höchster programmatischer Bedeutung. Die Erschließung neuer Landwirtschaftsgebiete sowie die kultische Stier- und Löwenjagd wurden methodisch geschickt eingesetzt, um den kreativen Impetus und den Schutz des Volkes durch den Herrscher vor den ‚chaotischen‘ Kräften der Natur zu inszenieren. Zu den bekanntesten Königen dieser Epoche zählt Sargon II. (721-705 v. Chr.), dessen monumentale Machtdemonstration sich in der Gründung seiner neuen Residenzstadt Dur Šarruken (moderner Flurname: Khorsabad, etwa 16 km nordöstlich von Mosul) samt Errichtung umfangreicher Garten- und Parkanlagen zeigte. Diese Anlagen verhießen als artifizielle Veränderung des Natürlichen, beinahe in Hybris mündend, ideologisch ergiebiges Potential architektonischer Selbstverwirklichung. Eine wesentliche Motivation des Stadt- und Landschaftsbaus ist daher in der propagandistischen Auswertung des symbolträchtigen ‚Erschaffens‘ ex nihilo zu finden. Gerade unter diesem Aspekt ermöglichte die Neugründung Dur Šarrukens am Fuß des Berges Ğebel Maqlub Sargon II. die effektvolle Integration eines ausgeprägten Landschaftsbezuges.

Siedlungsgeographische Aspekte

Inschriftlich begründete Sargon II. seine Absicht, das Prestigeprojekt der Planstadt Dur Šarruken umzusetzen, mit einem „Herzenswunsch“ und auf „göttlichen Ratschluss“ hin. In seinen Überlieferungen fällt allerdings auf, dass die üblichen Argumente, wie z. B. Flussnähe, vorteilhafte Verkehrslage oder geografiebedingte Defensivmöglichkeiten durch die Lage auf einer Anhöhe, unerwähnt bleiben. So scheinen derart plausible Überlegungen bei der Standortwahl eine eher untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Denn tatsächlich waren die natürlichen Voraussetzungen im Gebiet der späteren Residenzstadt insofern problematisch, als z. B. die Wasserversorgung lediglich durch den schmalen Fluss Khosr erfolgte. Darüber hinaus errichtete man die Stadt in einer ungeschützten Ebene, die eher unvorteilhafte fortifikatorische Gegebenheiten bot. Ebenfalls war der Bedarf eines wirtschaftlichen Umschlagsplatzes durch das ca. 16 km entfernte Ninive bereits gedeckt. Die geographische Lage Dur Šarrukens scheint daher nicht Anlass für die Gründung an dieser Stelle gewesen zu sein.

Politische Intentionen

Für Sargons II. Beweggründe sind daher ideologische und programmatische Überlegungen eher in Betracht zu ziehen als rein funktionale Erwägungen. Dementsprechend ist die propagandistische Verwertung einer Stadtgründung in nahezu unbesiedeltem Gebiet in den Überlieferungen des Herrschers zu finden. In diesen Texten erwähnt Sargon II., dass er durch die Stadtgründung an „vergessenem Ort“ Infrastruktur und Agrarwirtschaft im betreffenden Gebiet steigere. Somit rückt er in diesem Rahmen auch seine ‚karitativen‘ Absichten für das Land Assyrien in den Vordergrund. Besonders erwähnenswert scheint ihm die Tatsache, dass die Lage der neuen Stadt „am Fuße des Gebirges Musri (Ğebel Maqlub), im Weichbild Ninives“ „keinem der alten 350 Fürsten, die vor ihm lebten“, bekannt gewesen sei. Der gleiche Text berichtet lediglich von einem zuvor an dieser Stelle gelegenen Weiler samt umliegenden Ländereien zur Versorgung des Tempels von Ninive. Die wohl erfolgte Enteignung von Besitz, der in Verbindung mit Tempelwirtschaft stand, zeigt indirekt Sargons II. Machtzuwachs sowie seine fortschreitende Distanz zum priesterlichen Milieu und verdeutlicht ebenfalls – in Gestalt der politisch motivierten Landschaftspflege – sein säkularisierendes herrschaftliches Potential. So steht die Neugründung der Stadt auch für den Versuch, klerikalen Einfluss zu mindern. Daher kann diese Maßnahme möglicherweise mit einem von Sargon II. initiierten religiösen bzw. politischen Wandel in Verbindung gebracht werden. Eine politische Dimension für die Stadtgründung erschließt sich allerdings, wenn man Sargon II. die langfristige Strategie unterstellt, durch Funktionsverlagerung Dur Šarruken als neues Handelszentrum zu entwickeln. Damit einhergehend wäre das mutmaßliche Aufbrechen traditioneller Strukturen der altehrwürdigen Städte wie Assur oder Ninive denkbar – und somit auch der mit ihnen verbundenen religiösen und kulturellen Institutionen. Durch den unerwarteten Tod des Herrschers (705 v. Chr.) und die darauf folgende Verlegung der Residenzstadt durch dessen Nachfolger Sanherib nach Ninive, kann man über die möglichen Auswirkungen einer solchen wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahme jedoch nur spekulieren.

Demonstrative Monumentalität

Die Bedeutung der neuangelegten Stadt Dur Šarruken zeigt sich neben dem imposanten Palastbereich und seiner monumentalen Architektur sowie der gewaltigen Befestigungsanlage vor allem in der Kürze der Entwicklungszeit und dem damit verbundenen Organisationspotential ihrer Erbauer. Die Stadt umfasste eine Fläche von ca. 300 ha, wobei alleine für den Palastbereich eine etwa 12 m hohe Terrasse (ca. 290 m x 290 m) errichtet wurde. Den herrschaftlichen Bereich und die Tempelbauten trennte eine eigene Zitadellenmauer von den profanen Wohnvierteln. Sie durchbrach im Nordwesten die etwa gleich hohe mit Risaliten versehene Stadtmauer. Der dadurch entstandene Vorsprung verstärkte – von außen betrachtet – den fortifikatorischen Eindruck des erhöht gelegenen Palastbezirkes. Als wesentlicher Bestandteil der Sakraltopografie ragte die etwa 40 m hohe Zikkurat empor. Etwas abgegrenzt befand sich der über eine Steinbrücke vom Palastbereich erreichbare Nabû-Tempel auf einer eigenen Terrasse. Zur Machtdemonstration war diese Konzentration erhöhter Bauten im 20 ha großen Zitadellenbereich deutlich vom Rest der Stadt abgesetzt.

Ideologische Implikationen

In Sargons II. überlieferter Baubeschreibung der Stadt zeigt sich die symbolische Dimension dieser Neugründung. Der Herrscher instrumentalisiert in diesem Text seinen Namen, indem er ihn gematrisch mit den Maßen der Stadtmauer verknüpft. Darüber hinaus finden sich im Tempelbereich des Palastes Rebusse in Form ‚Assyrischer Hieroglyphen‘, die den Königstitel wiedergeben sollen. Der Baubericht der Stadtmauer, in dem der Aspekt der Schöpfung betont wird, gilt als weiteres Beispiel für diesen ausgeprägten Symbolismus. Dazu ist Dur Šarruken als Repräsentation des Kosmos in seiner Orientierung auf die Kardinalsrichtungen abgestimmt. Ebenfalls beschreibt Sargon II. die Errichtung von acht Stadttoren in allen Windrichtungen und reflektiert damit Teile des Weltschöpfungsmythos Enuma eliš, in dem die acht Tore der Himmelskuppeln – je vier für Ober- und Unterwelt – erschaffen werden. Bekräftigt wird dieser Schöpfungsgedanke dabei durch Sargons II. Aussage, es habe sich an der Stelle nur ein Weiler befunden und keiner der Könige vor ihm habe eine Stadtgründung in dieser Lage jemals in Erwägung gezogen. Ein weiterer Aspekt des ‚Erschaffens‘ zeigt sich in der von Sargon II. beschriebenen extramuralen Garten- bzw. Parkanlage (akk. kirimahu), in der sich – symbolisch überhöht – Pflanzen und Tiere der Gebiete befanden, die von den Assyrern erobert wurden. Sargon II. lässt dazu folgendes vermitteln: „Ein kirimahu, eine genaue Nachbildung des Amanus-Gebirges, [in dem] alle wohlriechenden, aromatischen Bäume des Hatti-Landes und sämtliche Obstbaumsorten des Gebirges [angepflanzt sind, legte ich um die Stadt herum an].“
Derart gestaltete hortikulturelle Bezüge spiegeln sich ebenfalls in der palatialen Architektur wider. So befand sich im nordwestlichen Bereich des Palastareals eine freistehende und nur sehr fragmentarisch erhaltene pavillonartige Anlage, die eventuell dem Vorbild des Hatti-Landes (im syrischen Raum) entsprach. Dieser Bau war an seiner Front mittels Säulenstellung offen angelegt. Der dadurch mögliche Landschaftsbezug von der Palastterrasse herab ist möglicherweise unter repräsentativen Gesichtspunkten als Instrumentalisierung der gestalteten Natur einzuschätzen. Im nördlichen Empfangsbereich des Palastareals wurden jagdbezogene Reliefthemen (Raum 7) durch die Aussichtsmöglichkeit auf die dem Palast vorgelagerten Parkanlagen mit architektonisch hergestelltem Landschaftsbezug kombiniert.Eindrücke von der Beschaffenheit dieser Gärten können mittels moderner Visualisierungstechniken auf Grundlage von Satellitendaten, Höhenprofilen und Textquellen gewonnen werden. Mittels 3D-Rekonstruktion kann die Wirkung von monumentaler Palastarchitektur und Parkanlage, sowie deren Beziehung zueinander, virtuell nachgestellt und untersucht werden. Darüber hinaus gewährt sie im Rahmen einer Gesamtdarstellung des Palastes die Untersuchung des semiotischen Bildprogrammes und ermöglicht Studien weiterer Kontexte, in denen Reliefthemen in Bezug zu ihrem jeweiligen Anbringungsort stehen. Das Beispiel der assyrischen Jagd- und Landschaftsszenen aus Dur Šarruken demonstriert eindrucksvoll die zielgerichtete Planung und Umsetzung eines solchen Konzeptes steingewordener Symbolik.

 

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Errichtung der Stadt Dur Šarruken ein herausragendes Bauprojekt der neuassyrischen Periode darstellt. Die Beweggründe zur Verlegung der Residenz scheinen einerseits vorwiegend säkularisierend motiviert zu sein. Andererseits zeigt die Wahl eines bisher weitestgehend unberührten Ortes den Wert und die Bedeutung von Neuschöpfung und architektonischer Selbstverwirklichung. Genau unter dem Aspekt des ‚Erschaffens‘ bietet das Terrain um Dur Šarruken die Chance einer ideologisch nutzbaren Gebietsimitation hügeliger und mutmaßlich prestigeträchtiger Landschaften Syriens. Die symbolische Dimension der Parkanlage bestand nicht nur in ihrer wirkmächtigen Präsentation, sondern auch in ihrer effektvollen Instrumentalisierung einer die Natur beherrschenden Machtdemonstration.


LITERATUR:

Fuchs, A. 1994: Die Inschriften Sargons II. aus Khorsabad. Göttingen: Cuvillier.

Luckenbill, D. D. 1968 [1927]: Ancient Records of Assyria and Babylonia Vol. 2. New York: Greenwood Press.

Novak, M. 1999: Herrschaftsform und Stadtbaukunst – Programmatik im mesopotamischen Residenzstadtbau von Agade bis Surra man ra_a. Saarbrücken: Saarbrücken SDV.

 

3D-Modell eines Heros (Gilgamesh)

3D-Scan und Modell: Phillip Serba
Menschen | Tun | Dinge Landschaft und Urbanisierung

Interview Philipp Serba

Stell dir vor, du erklärst einem Laien vor Ort dein Promotionsthema.

Was sagst Du?

Im Rahmen der Promotion habe ich dreidimensionale Kopien von Reliefs erzeugt, die ursprünglich aus dem 2.800 Jahre alten Palast Nimrūds und Khorsabads (jeweils Irak) stammen. Beides waren einst Hauptstädte des assyrischen Reiches. Heutzutage befinden sich diese Reliefs in weltweit über 60 Museen oder Sammlungen. Auf ihnen sind schutzbringende Figuren dargestellt, die man „Genien“ nennt und deren Details, wie z. B. feine Binnentexturen oder Pigmentreste von mir untersucht und katalogisiert werden. Die Erkenntnisse fließen in ein virtuelles Gesamtmodell des Palastes ein, das dazu dient alle Ergebnisse zu veranschaulichen. Anhand dessen können Rückschlüsse zu generellem Auftreten und potentieller Funktion der „Genien“ gewonnen werden. Daneben bietet die Rekonstruktion auch Möglichkeiten zur musealen Präsentation durch virtuelle Touren in der gesamten Palast- und Gartenanlage.

Wie gehst du dabei vor?

Methodisch folgt die Arbeit in ihren Grundzügen einem primär induktiven Verfahren. Dieses sieht vor, ausgehend von einer Beschreibung der Relieffiguren, ihre Variationsbreite und ihre mögliche Bedeutung zu überprüfen. Zur Bestätigung verschiedener Arbeitsthesen, die sich mit der Systematik des Aussehens und der Anbringungspositionen dieser Figuren beschäftigen, wurde eine dreidimensionale Visualisierung eines Palastareales vorgenommen. Im Zuge dessen erfolgte die Darstellung sämtlicher neu aufgenommener Daten in virtuellen Gesamtmodellen sowie eine typologische Sortierung. Im Anschluss an diese Materialbearbeitung können die jeweiligen Arbeitsthesen dann in Form einer Synthese entsprechend bestätigt oder widerlegt werden. Die Herstellung exakter Reliefkopien, basierend auf den Originalen, erfolgte in über 60 Museen und Sammlungen weltweit durch „Structure from Motion“ (SfM). Mithilfe dieses Verfahrens können durch Differenzinformationen vieler Fotografien aus unterschiedlichen Blickwinkeln präzise 3D-Modelle erzeugt und fotogrammetrische Daten extrahiert werden. Dafür wird pro Relief ein Zeitaufwand von mehreren Stunden benötigt. Die Anwendung von „Reflectance Transformation Imaging“ (RTI) bzw. auch Streiflicht erlaubte eine Analyse von Binnentexturen auf den Reliefs in bisher nicht dagewesener Präzision. Die Mitarbeit der Kollegin Verena Niebel ermöglichte eine umfassende zeichnerische Dokumentation der Motive vor Ort. Auf diesem Weg erkannte Darstellungen wurden anschließend auf die 3D-Reliefmodelle übertragen und diese – soweit durch Pigmentanalysen belegbar – virtuell koloriert. Verschollene oder unzugängliche Reliefs wurden nachmodelliert und texturiert. Insgesamt benötigte die Bearbeitung der rund 240 untersuchten Reliefs aus Nimrūd in dieser Detailgenauigkeit mehrere Jahre und darüber hinaus extrem leistungsstarke Rechner. Die Flugmeilen habe ich inzwischen aufgehört zu zählen…

Gab es Momente der Überraschung während deiner Forschung?

Zu den positiven Erinnerungen zählte das Privileg, an Schließtagen alleine in den wunderbarsten Museen dieser Welt arbeiten zu dürfen. Neben dem Louvre (Paris), dem British Museum (London) oder dem Metropolitan (New York) war vor allem die Zeit in der Eremitage (St. Petersburg) und im Miho Museum (Kyoto) eine beeindruckende Erfahrung. Beide Häuser sind für sich genommen schon sehenswerte Exponate, deren Besuch auf jeden Fall lohnt. Zu den bittersten Überraschungen zählte mit der mutwilligen Zerstörung Nimrūds in diesem Jahr, die Gegebenheit viele wichtige Primärquellen in situ nicht mehr in der Analyse berücksichtigen zu können. Im Rahmen dessen wären Scans zur Herstellung von realen Reliefkopien durch „Reverse Engineering“ (RE) möglich gewesen. Nun ist dieses kulturelle Erbe der Menschheit unwiederbringlich verloren gegangen. Abgesehen davon geht es einem persönlich natürlich nahe, wenn man die Explosion einer Anlage ansehen muss, in der man durch die Rekonstruktionsarbeit mittlerweile jeden Stein kennt und mit der man sich viele Jahre Lebenszeit beschäftigt hat. Dies passiert in unserem Fach auch in anderen Ländern leider immer wieder und der Blick auf die Forschungsgeschichte – bis hin zu den bekannten Pionieren der Archäologie – bietet die unschöne Erkenntnis: Archäologie ist zum Großteil immer auch Politik.

Welchen Einfluss auf die heutige Forschung erhoffst du dir von deinen Forschungsergebnissen?

Mit der Zerstörung Nimrūds einher ging der unwiederbringliche Verlust zahlreicher Reliefs, die – wenn überhaupt – nur als ungenaue Fotografie oder Zeichnung Eingang in die wissenschaftliche Diskussion fanden. Es zeigt die Bedeutung, eine präzise Dokumentation der noch vorhanden Originale weltweit zu vorzunehmen bzw. zu rechtfertigen. Zudem konnten zahlreiche Details, die erst heutzutage durch neue Technologien erkennbar wurden, in die Rekonstruktion mit einbezogen werden. Diese umfangreiche Detailfülle ermöglicht eine qualitative Verbesserung der Detailgenauigkeit in der Reliefdokumentation. Die virtuelle Zusammenführung der Originale erlaubt daher nun die Möglichkeit einer Gesamtdarstellung des Palastes en detail und somit ein umfassendes Bild der Flachreliefs apotropäischen Charakters.

Wo siehst du dich in 10 Jahren?

… mit diesem (gefühlten) Lebenswerk hoffentlich fertig! Natürlich hoffe ich, dass andere Wissenschaftler in der Promotion ein nützliches Werkzeug finden können. Für den Rekonstruktionsteil der Arbeit sehe ich das jedoch kritischer, da gerade bei Themen mit hohem technologischen Anteil immer auch das Potential geringer Halbwertszeit besteht. Ich fühle mich bestätigt, wenn ein breites Publikum hoffentlich Teile dieser Arbeit als virtuelle Tour in einigen Museen und dort im Kontext der ausgestellten Original-Reliefs sehen kann. Wenn das geschehen ist, gilt es, regelmäßig die neuesten archäologischen Erkenntnisse zum Promotionsthema sachgerecht und in verständliche Bilder zu übersetzen um dadurch den kulturbewahrenden sowie bildenden Auftrag der Museen zu unterstützen.

PHILIPP SERBA  ist Doktorand am Institut für Archäologische Wissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Abteilung Archäologie und Kulturgeschichte des Vorderen Orients. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Architektur neuassyrischer Paläste, deren Reliefdekor und der dort auftretenden apotropäischen Mechanismen. Für sein Promotionsprojekt hat er bereits Forschungsreisen zu weltweit über 60 Museen und Sammlungen unternommen. Bei seiner technischen Spezialisierung auf 3D-Rekonstruktionen steht besonders Structure from Motion (SfM) im Fokus. An der Fachhochschule in Darmstadt ist er als Lehrbeauftragter im Fachbereich Media tätig, darüber hinaus ist er als Director of Photography für zahlreiche Fernsehserien sowie Werbe- und Spezialaufnahmen verantwortlich. Philipp Serba ist assoziiertes Mitglied im Graduiertenkolleg „Wert und Äquivalent“.

Perspektive des Besuchers vor der Thronsaalfassade

Die Orthostaten wurden – soweit durch Pigmentanalysen belegbar – koloriert. Verschollene oder unzugängliche Reliefs wurden nachmodelliert und texturiert. Neben einer Visualisierung der Orthostaten samt ihrem einstigen Kontext als Abbildungsgrundlage ist auch die Aufbereitung der Daten für eine öffentliche Sichtung, z. B. in Form einer virtuellen Tour zur musealen Nutzung, von Bedeutung. Daher bietet sich der Export als Film oder auch 3D-Modell an, da beides weltweit plattformunabhängig zu betrachten ist.
Rekonstruktion: Philipp Serba

Seitenansicht mit ausgewähltem Lamassu

Eine Digitalisierung beider Paläste erfolgte mit Autodesk AUTOCAD® und einem maßstabsgetreuen Import in die Anwendung Autodesk MAYA®. Dafür musste das Mauerwerk in seiner vertikalen Achse – in einer den Wandstärken der jeweiligen Räume angepassten Höhe – als Polygon extrudiert werden. Die Erzeugung des Innendekors – der Orthostaten – gestaltete sich dabei technisch und logistisch deutlich aufwendiger. Ihre Aufnahme erfolgte durch Herstellung exakter Reliefkopien, basierend auf den Originalen aus einer Vielzahl vom Museen und Sammlungen, mit Hilfe von „Structure from Motion“ (SfM). Die anschließende Zusammenführung der Objekte im Gesamtmodell ermöglicht es, die Anbringungsorte auf eine mögliche Systematik hin zu untersuchen.

Rekonstruktion: Philipp Serba

Frontalansicht der Thronsaalfassade

Während der Rekonstruktion wurden die verfügbaren Primärquellen regelmäßig durch Bildüberlagerungen mit dem Palastmodell abgeglichen.
Rekonstruktion: Philipp Serba

Grundriss des Thronsaales

Zur Rekonstruktion des Palastareals war es erforderlich, die Primärquellen der Ausgräber zusammenzufassen und digital durch CAD aufzuarbeiten. Der daraus resultierende Gesamtplan bildet die größte Schnittmenge aktueller Publikationen und dient dabei vor allem einer übergeordneten Betrachtung des architektonischen Konzeptes. Aus dem Gesamtbild lassen sich Rückschlüsse über mögliche Anbringungskonzepte der Figuren und potentielle Wege innerhalb des Palastes ziehen. Weitere Aspekte, wie der Landschaftsbezug können durch das dreidimensionale Palastmodell unterstützend visuell herausgearbeitet werden.
Rekonstruktion: Philipp Serba

Digitale Punktwolke: Heros mit Löwe

Die Skulptur wurde mittels Structure from Motion (SfM) digital aufgenommen. Bei diesem Verfahren dienen die Differenzinformationen zahlreicher Fotographien in hoher Auflösung (blaue Rechtecke) der Rekonstruktion von Tiefendaten. Aus der so generierten Punktewolke wird eine dreidimensionale Struktur entwickelt. Anschließend erfolgt die Kolorierung der Figur, die beispielsweise auf Pigmentanalysen oder Beobachtungen zum Zeitpunkt der Ausgrabung basieren. In einem letzten Schritt kann der rekonstruierte Heros – zusammen mit weiteren gescannten Skulpturen – in das virtuelle Palastmodell integriert werden.
Rekonstruktion: Philipp Serba

Dur Šarruken – Hof III, Ende 8. Jh. v. Chr.

Der auf einer Zitadelle gelegene Palast besaß offene Empfangsbereiche. Einer dieser Höfe befand sich im Nordwesten der Residenz und ermöglichte die Präsentation der Parkanlage unmittelbar vor der Stadt.

Blick nach Nordwesten

Rekonstruktion: Philipp Serba

Flug über Dur Šarruken

Der Film zeigt den Weg von Nordosten aus in die Stadt hinein. Man durchquert den Haupthof des monumentalen Palastes und gewinnt einen Eindruck von der gezielten Präsentation der Parkanlage. Durch den überraschenden Tod Sargons II. 705 v. Chr. wurde die Stadt nie vollständig bevölkert. Daher widmet sich die Rekonstruktion vor allem dem Residenzbereich des Herrschers, sowie der Fortifikation der Stadt.
Rekonstruktion: Philipp Serba
Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

Region du Plateau Central, Burkina Faso, u.a. Nagréongo

Menschen | Tun | Dinge Landschaft und Urbanisierung

Frauen und
Landnutzung in
Burkina Faso —
Lebensunterhalt,
Rechte und Familien-
beziehungen

Trotz der wachsenden Urbanisierung, die die meisten afrikanischen Gesellschaften charakterisiert, stellen Feldbau und Viehzucht in Westafrika noch immer den Schwerpunkt des Lebensunterhalts der Menschen sowohl in der Stadt als auch im ländlichen Gebiet dar. Die Bevölkerungsmehrheit steht in einer engen Verbindung zur agrarischen Produktion in ländlichen Gebieten. In diesem Rahmen bildet die Ernte die Grundlage der lokalen wie nationalen Wirtschaft auf mindestens zweierlei Art: (1) als wesentliche Ressource des Lebensunterhaltes eines Haushalts, in dem die Ernte gegessen oder verkauft wird, um das wirtschaftliche Einkommen zu erhöhen; (2) als wichtige Unterstützung der nationalen Wirtschaft, durch den Export von landwirtschaftlichen Erzeugnissen ins Ausland.In Bezug darauf stellt das im Herzen Westafrikas gelegene Land Burkina Faso ein relevantes Fallbeispiel dar. Wegen seiner geografischen Lage ist es trocken und im Norden sogar überwiegend wüstenartig. Trotz dieser Umweltbeschaffenheit wird der Großteil des Wirtschaftseinkommens in Burkina Faso durch die Landwirtschaft generiert. 80% der nationalen Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Das Einkommen aus Feldbau und Viehzucht wird auf 40% des nationalen BIP geschätzt und macht 86% des Exports aus. In dieser Hinsicht spielen Land und Boden sowohl für die lokale Gemeinschaft als auch für die nationale Wirtschaft die Hauptrolle. Das zentrale Gebiet dieses Landes, in dem die Hauptstadt Ouagadougou liegt, befindet sich jedoch in einer schwierigen ökologischen Lage. Ein demografischer Wandel sowie anhaltende Dürren führten in dieser Region zu einer Bodendegradierung und einer Verarmung an natürlichen Ressourcen. Diese Faktoren beeinflussen rückwirkend auch wesentlich die Systeme der Lebensgrundlagen. Unter diesem Einfluss haben lokale Bauern besondere landwirtschaftliche Techniken entwickelt, um die Produktivität der Böden zu verbessern und die Kosten der Lebenshaltung zu decken.
Diese Gebiete sind größtenteils von der ethnischen Gruppe der Mossi bevölkert, die fast die Hälfte der nationalen Bevölkerung ausmacht. Im Gegensatz zu anderen ethnischen Gruppen in Burkina Faso sind die Mossi eine Agrargesellschaft. Ihre soziale Organisation ist geprägt von einer stark patriarchalen Struktur, innerhalb derer Machtverhältnisse sowohl auf der Gemeinschafts- als auch auf der familiären Ebene geregelt werden. Deshalb genießt innerhalb der Familie die Abstammungslinie vom Vater auf den Sohn Priorität. Das Wohnsitzsystem ist gleichfalls patrilokal, was für eine verheiratete Frau bedeutet, nach der Eheschließung ein Teil des Haushalts ihres Mannes zu werden. Wie dieser Text erklären wird, ist Landwirtschaft in ländlichen Gebieten nicht nur an die konkrete Produktion gebunden. Sie stellt vielmehr einen sehr wichtigen Aspekt des Lebens der Menschen sowie der Regelung der machtpolitischen Faktoren, die die zwischenmenschlichen Beziehungen beeinflussen, dar. Das landwirtschaftliche System, das den Haushalt der Mossi charakterisiert, unterscheidet mindestens zwei verschiedene Feldtypen. Jeder Typ eines Feldes weist innere Besonderheiten auf. Diese umfassen Elemente wie die Definition der Feldgrenzen, die Wahl der Nutzpflanzen, die Beteiligung an landwirtschaftlichen Tätigkeiten und die Möglichkeit, das Land anderen Mitgliedern der Familie zuzuteilen.

Das Familienfeld, Pugkêenga

Das erste Kultivierungsmodell wird pugkêenga genannt. In ländlichen Gebieten bezeichnet es das große Gemeinschaftsfeld, auf dem während der Regenzeit (von Juli bis Oktober) alle Haushaltsmitglieder den größten Teil ihres Tages verbringen. Auf diese Weise hat der Haushaltsvorstand die Möglichkeit, die Familienarbeit zu kontrollieren und direkt zu steuern. Da das Land den Haushaltsvorständen ursprünglich von ihren Vorfahren zugewiesen wurde, entspricht die Position des Gemeinschaftsfeldes nicht immer dem Bereich, auf dem später der Hof erbaut wurde. Dies ist auch vielfach der Grund, weshalb das Familienfeld manchmal mehrere hundert Meter vom Hof entfernt liegt. Die Felder des pugkêenga werden fast ausschließlich für den regenbewässerten Anbau von Getreide, wie dem roten und weißen Sorghum oder Hirse, verwendet. Die Ernte wird von einem gemeinschaftlichen Getreidespeicher aus verteilt und sichert so der Familie die Existenz über das ganze Jahr. Der Haushaltsvorstand verwaltet das Familienfeld zu Gunsten der kompletten Gruppe.

Landbesitz oder Landerbe?

Aus der Perspektive der Mossi ist das Land nicht im Besitz einzelner Mitglieder der Familie. Das übergeordnete Nutzungsrecht besitzt die Großfamilie, von der einige Mitglieder schon gestorben sind, andere noch leben und unzählige noch nicht geboren sind. In diesem Sinne erben die Mitglieder der Familie nur vorübergehende Nutzungsrechte von den Ahnen ihrer Familie, die als erste Bewohner des Landes angesehen werden. Das Landerbe wird durch die patriarchale Abstammungslinie an Männer der Familie weitergegeben. Frauen und Neuankömmlinge haben deshalb zunächst keine eigenen Felder. Jedoch gibt es andere Möglichkeiten für sie, Rechte der Landnutzung zu erwerben. Dieses Recht bezieht sich auf kleine individuelle Grundstücke, genannt béolga. Dieses kann Frauen, Migranten oder jungen Familienmitgliedern in Form einer ‚Landleihgabe‘ auf unbestimmte Zeit zugeteilt werden. 

Das Einzelfeld, Béolga

In ländlichen Mossi-Gebieten stellt der béolga die einzige Möglichkeit für Frauen dar, ein Feld eigenverantwortlich zu bebauen. Dieses Grundstück wird gewöhnlich dem Land der erweiterten Familie des Mannes entnommen. Nach der Eheschließung hat die Frau die Möglichkeit, das Haushaltsoberhaupt um ein eigenes Feld für den Anbau zu bitten. In diesem Fall wird er direkt beauftragt, ein Grundstück für sie zu finden und – wenn möglich – dieses aus seinem eigenen Land zu entnehmen. So bekommt die Frau die Gelegenheit, ein Landstück eigenständig zu bewirtschaften. Das Land ist den Frauen für eine unbestimmte Zeitdauer zugeteilt: sie müssen dem Grundbesitzer, der ihnen das Feld zu Verfügung stellt, keine Pacht zahlen. Aber gleichzeitig sind die Frauen immer dem Risiko des Landverlustes ausgesetzt, da sie keine permanenten Nutzungsrechte haben.
Béolga messen gewöhnlich etwa ein oder zwei Zehntel der Größe eines Familienfeldes. Ihre Position hängt von der Verteilung aller von der Familiengruppe besessenen Felder ab. Die kleinen Grundstücke können sich sowohl direkt neben dem Hof als auch in der Nähe des Familienfeldes befinden. Während der Regenzeit hat die Frau die Verpflichtung, jeden Tag von 8 bis 16 Uhr auf dem Familienfeld zu arbeiten. Außerhalb dieser Pflicht darf sie ihre Zeit eigenständig verwalten, sodass sie ihren persönlichen Tätigkeiten nachgehen kann. Die meisten Frauen entscheiden sich dafür, ihr kleines Grundstück früh am Morgen (von 5 bis 7.30 Uhr) oder erst am Abend vor Beginn der häuslichen Arbeiten zu bewirtschaften. Diese Felder werden häufig für die Kultivierung von Augenbohnen, Erdnüssen, Erbsen, Sesam und anderen sogenannten ,Sauce-Pflanzen‘ (Sauerampfer, Chili und Okra) verwendet. Diese Agrarpflanzen benötigen relativ wenig Feldarbeit, was den Frauen die Integration der Aufgabe in ihre sonstigen Tätigkeiten erleichtert.

Die Rolle von Frauen bei der Landverwaltung in der Haushalts- ökonomie

Durch das Bebauen dieses kleinen Feldes hat jede Frau die Gelegenheit, die kultivierten Pflanzen unter Berücksichtigung der spezifischen Anbauzeiten und eines Produktions- und Verkaufsplans so auszuwählen, dass sie ihrer eigenen ökonomischen Strategie entsprechen. In diesem Rahmen können Frauen eigene Einnahmen aus den Früchten ihrer Felder erzielen, indem sie ihre Erträge auf einem Markt für Lebensmittel verkaufen. In diesem Fall können die Frauen gezielte Strategien des Ressourcenmanagements anwenden und ihre unternehmerischen Fähigkeiten auch außerhalb der Familie demonstrieren. In dieser Hinsicht stellt der ökonomische Profit für die Frauen sowohl eine persönliche Rücklage als auch eine Vorsorge gegenüber den Schwankungen des Familieneinkommens dar, wohingegen das Getreide vom Familienfeld gewöhnlich für den haushaltsinternen Verbrauch vorgesehen ist. Der béolga wird deshalb von den Mossi-Frauen als ein flexibles landwirtschaftliches Modell neu aufgefasst, das sich zur Bewältigung von Unsicherheit und zur Vorsorge gegen den Fall von Schwierigkeiten auf Haushaltsebene eignet.

Schwierigkeiten für Frauen bei Landzugang und -nutzung

In diesem Rahmen haben die Frauen mehrere Möglichkeiten, um persönliche Autonomie im Wirtschaftsmanagement innerhalb und außerhalb des Haushalts auszuüben. Dennoch gehört das Grundstück nach wie vor dem Mann oder dem Haushaltsvorstand. Dies bedeutet für eine Frau, zwar einen persönlichen Zugang zum Land zu erhalten, aber gleichzeitig ohne dauerhafte Landnutzungsrechte zu sein. Dieser Aspekt birgt eine Schwierigkeit für die Frauen, im Vergleich zu den männlichen Haushaltsmitgliedern, die sichere und dauerhafte Nutzungsrechte erhalten. In einzelnen Fällen kann der Mann die Frau tatsächlich auffordern, einen großen Anteil ihres landwirtschaftlichen Einkommens für den Haushaltsverbrauch bereitzustellen. In diesem Fall wird die Frau daran gehindert, die Früchte ihres Feldes für den Marktverkauf zu verwenden; sie muss also auf eigenes Einkommen verzichten. Eine Beschränkung des Landzugangs kann auch entstehen, wenn sich ein Mann dafür entscheidet, seiner Frau das Grundstück zu entziehen, um seine Felder auszuweiten. Möglicherweise kann ein Mann auch zum Ziel haben, den Interessen seiner Frau etwas entgegenzusetzen oder ihre soziale und wirtschaftliche Macht innerhalb des Haushalts einzuschränken. Solche Situationen treten dann ein, wenn ein relativ hoher Gewinn eine Steigerung der Kaufkraft der Frau hervorruft, was im patriarchalen System häufig als Provokation angesehen wird. 

Weibliche und männliche Handlungs- strategien

Durch die geschilderte Form des Landverleihs wird der béolga zu einem Ort, an dem männliche Autorität auf weibliche Feldbaustrategien trifft. In manchen Fällen verursacht dies Konflikte um Landnutzungsmöglichkeiten. Gleichzeitig zeigen aber die Zugangsmöglichkeiten der Frauen zu dieser Art von Feldern, wie weibliche Handlungsstrategien innerhalb eines patriarchalisch dominierten Systems effizient verfolgt werden können. In einer Gesellschaft, in der Frauentätigkeiten scheinbar an den Rand verbannt sind, eröffnet der béolga neue Perspektiven auf Frauenrollen, Handlungsspielräume und Verantwortlichkeiten unter den Mossi in Burkina Faso. Des Weiteren erhellt er die Sicht auf den Einfluss von Beziehungen zwischen Frauen und Männern auf die Haushaltswirtschaft in ländlichen Systemen des Lebensunterhalts.

Hirsekörner

Hirse stellt die am weitesten verbreitete Nutzpflanze im Nordosten Burkina Fasos dar. Diese Getreidepflanze wird in großen Grundflächen angebaut, weshalb man sie oft auf Familienfeldern findet. Der Ernteertrag wird meistens für die Haushaltsversorgung genutzt.
© Elke Wetzig (Elya)

Zubereitung Krapfen

Krapfen, die aus Augenbohnenmehl gemacht wurden. Sie werden anschließend von Frauen auf dem lokalen Markt verkauft.
Foto: Martina Cavicchioli 2012

Wohnung einer Frau

In dieser Wohnung wohnt eine Frau mit ihren zwei Kindern. Die Wohnung besteht aus Lehm und hat vorne ein Wellblechdach. In diesem Lehmhaus liegt eine Kochstelle und verschiedene Haushaltsgegenstände, die der Frau gehören.
Grafik: Martina Miocevic

Wohnung einer Frau und Mahlstelle

In dieser Wohnung wohnt eine Informantin mit ihren zwei Kindern. Vor der Wohnung liegt ein kleiner Hof, in welchem eine kleine Kochstelle ist. Vor der Mauer befindet sich eine Stelle zum Mahlen von Getreide.
Foto: Martina Cavicchioli 2012

Rechteckiger Hof einer polygamen Familie im ländlichen Raum

In diesem Hof wohnt ein Mann mit seinen zwei Frauen und Kindern. Jede Frau wohnt mit ihren Kindern in einer der Wohnungen. Der Mann lebt in einer eigenen Wohnung, vor der eine Veranda für die Gäste gebaut wurde. Auf diesem Hof befinden sich Lehmhäuser mit Wellblechdach.
Grafik: Martina Miocevic

Feld

Ein Einzelfeld, béolga, auf dem Augenbohnenpflanzen angebaut werden (Regenzeit, August 2012)

Foto: Martina Cavicchioli 2012

Augenbohnen

Augenbohnen werden sowohl in großen als auch kleinen Feldern angebaut. Gemeinsam mit Erdnüssen wird der Ernteertrag zumeist von Frauen im lokalen Markt gekauft und zumindest für die Haushaltsversorgung genutzt.
© Toby Hudson

Markt

Eine Frau verkauft auf dem lokalen Markt Produkte, die fast alle aus Erdnüssen gemacht sind (z.B. Erdnussöl in Flaschen, geröstete Erdnüsse, Erdnussbutter in kleinen Plastikbeuteln, Kekse aus Erdnussbutter).
Foto: Martina Cavicchioli 2013

Wohnung eines Mannes

Diese Wohnung gehört einem Mann, der mit zwei Frauen verheiratet ist. Vor seiner Wohnung befindet sich eine Veranda für Gäste.
Foto: Martina Cavicchioli 2012

Feldarbeit

Eine Frau bearbeitet weiße Hirse auf dem Familienfeld. Um die Hirsekörner von der Spreu zu befreien, benutzt sie zwei halbe trockene Kürbisschalen.
Foto: Martina Cavicchioli 2012

Menschen | Tun | Dinge Landschaft und Urbanisierung

Interview Martina Cavicchioli

Stell dir vor, du erklärst einem Laien vor Ort dein Promotionsthema.

Was sagst Du?

Ich erforsche den Umgang von Frauen mit deren Ackerfeldern der Mossi Gruppe in Burkina Faso, Mitte Westafrikas. In den meisten ethnischen Gruppen dieses Landes haben die Männer die Kontrolle über das meiste im Familienleben. Man sollte meinen, dass die Frauen dadurch gar keine Möglichkeiten haben, eine soziale Rolle zu spielen. Aber es gibt ein System, in dem Frauen ein kleines Ackerfeld von ihren Männern zugestellt bekommen und daran arbeiten und Geld verdienen können. Das steht im Gegensatz zu anderen Gruppen in Westafrika, in denen Frauen eine große soziale Rolle zugeschrieben wird, sie aber keine Ackerfelder besitzen. In meiner Arbeit gehe ich diesem Unterschied nach. Ich frage mich, in wieweit das Beackern des eigenen Grundstücks das Leben dieser Frauen und ihre soziale Rolle innerhalb der Gruppe verändert, wie solche Frauen sich diese Erlaubnis erarbeiten, wie sie an diesem Feld arbeiten und mit welchen Risiken das Verlieren dieses Rechtes verbunden ist.

Wie gehst du dabei vor?

Ethnologen legen viel Wert auf den Umgang mit ihren „Informanten“. Das sind Menschen vor Ort, die wertvolle „Informationen“ zu dem Forschungsthema haben. Deswegen versuche ich immer eine gute Beziehung zu meinen Informanten zu pflegen. Das ist nicht immer einfach. Es erfordert ein gewisses Fingerspitzengefühl. Man muss sehr vorsichtig sein, den Informanten nicht versehentlich zu nahe zu treten. Für meine Forschung verwende ich eine anerkannte Methode, nämlich die „teilnehmende Beobachtung“. Dabei geht es um zwei Sachen: Teilnehmen und Beobachten. Das heißt, ich lebe über längere Zeit mit diesen Menschen in der Gruppe, nehme an deren Alltag teil und beobachte ihr Verhalten sehr genau. Gleichzeitig führe ich Interviews mit Männern und Frauen, die unterschiedliche Rollen in dieser Gruppe haben. Es werden Fragebogen ausgefüllt. Ich dokumentiere meine Beobachtungen in Fotos, Notizen und Filmen, Bandaufnahmen und ähnlichem. Basierend auf diesen Daten schreibe ich dann später meine Gedanken dazu auf.

Gab es Momente der Überraschung während deiner Forschung?

Bei einer Feldforschung plant man alles voraus. Es gab aber viele Momente, in denen ich gezwungen war von meinem Plan abzuweichen. Einmal hat es zum Beispiel so heftig geregnet, dass ich die Ortschaft nicht mehr erreichen konnte, da die Straßen mehrere Tage überschwemmt waren. Das hat meinen Zeitplan durcheinander gebracht. Ein anderes Mal, hatte ich Interviews mit zwei Informantinnen vor Ort für einen Nachmittag geplant. Als ich in dieser Ortschaft ankam, haben mich diese Frauen und sogar die ganzen Einwohner sehr herzlich begrüßt und zu sich zum Essen und Trinken eingeladen. Ich habe es deswegen gar nicht zeitlich geschafft, an diesem Nachmittag Interviews zu führen. Aber diese spontanen Überraschungsbesuche bei jeder einzelnen Frau in der Gemeinde haben mir sehr geholfen, die Bewohner besser kennen zu lernen und nützliche Informationen für meine Forschung zu gewinnen.

Welchen Einfluss auf die heutige Forschung erhoffst du dir von deinen Forschungsergebnissen?

Ich erhoffe mir einen Einfluss in der Politik, was zukünftig die Entwicklungsprojekte in dieser Region betrifft. Ich möchte zeigen, dass unsere Vorurteile gegenüber Afrika meistens der Wahrheit sehr fern sind. Zum Beispiel meinen die meisten, dass Afrika ein Kontinent mit reichen natürlichen Ressourcen ist, in dem aber Frauen keine Möglichkeiten zu Gleichberechtigung haben. Das Beispiel meiner Forschung zeigt, dass die Bevölkerung gute Ideen hat, wie Frauen eigenständig finanziell und sozial in der Gruppe verbunden sind. Sie haben dieses Konzept entwickelt, welches Frauen erlaubt jeweils ein kleines Grundstück zu beackern und damit ihre Kinder ernähren. Vielleicht kann dieses erfolgreiche Konzept der lokalen Bevölkerung den Politikern sowie gute und konkrete Ideen geben und andere Möglichkeiten zu einem besseren Leben verschaffen.

Wo siehst du dich in 10 Jahren?

Das ist eine sehr schwierige Frage! Niemand kann wissen, wo er in 10 Jahren ist. Ich kann nur sagen, wo ich in 10 Jahren sein möchte. Ich möchte mich als eine Mitarbeiterin mehrerer Projekte in Westafrika sehen. In den nächsten Jahren werde ich hoffentlich durch meine Mitarbeit an vielen ethnologischen Forschungen kostbare Erkenntnisse bezüglich der Umstände in Afrika gewinnen und weiterhin dort forschen können. Außerdem möchte ich meine Erkenntnisse dazu nutzen, um zu einem besseren Leben der Menschen vor Ort aktiv beizutragen.

MARTINA CAVICCHIOLI promoviert am Institut für Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seit Oktober 2014 ist sie assoziierte Doktorandin im Graduiertenkolleg „Wert und Äquivalent“ und seit August 2015 Stipendiatin der Konrad- Adenauer-Stiftung. 2007-2013 studierte sie Ethnologie und Migrationsstudien in Bologna (Italien). Sie beschäftigt sich mit Wirtschaftsethnologie, Politischer Ethnologie, Geschlechterstudien, Landnutzung, Haushaltsökonomie und -verbrauch, Verwandtschaft und Familienbeziehungen. Regional liegt der Schwerpunkt ihrer Studien in Westafrika, wo sie seit 2011 mehrere Forschungsaufenthalte in Burkina Faso durchführte. Zudem ist sie assoziierte Wissenschaftlerin am Zentrum Laboratoire Citoyennetés in Ouagadougou (Burkina Faso).

Menschen | Tun | Dinge

Wirtschaft und Verwaltung

Kontrolle ist gut, Vertrauen besser?
Menschen | Tun | Dinge Wirtschaft und Verwaltung

Wirtschaft und
Verwaltung —
Von freien Unter-
nehmern und
Bürokraten

Die Erforschung der kulturellen Entwicklung der Menschheit offenbart ein sonderbares und fortbestehendes Spannungsverhältnis zwischen unternehmerisch und bürokratisch geprägten Organisationstypen. Das Verhältnis zwischen freien Unternehmern und Bürokraten ist eine Geschichte, die ihresgleichen sucht. Ein ‚Krieg der Sterne‘. Ein Machtkampf zwischen den Anforderungen freier sich selbst organisierender Unternehmer und denen der Bürokraten, welche bestrebt sind ‚Herrschaft der Verwaltung‘ durch eine hierarchische Organisationsführung aufrechtzuerhalten. Anforderungen, die widerstrebender nicht sein können - scheinbar beide von einem anderen Stern.

Ein epischer Machtkampf zwischen Gut und Böse?

Es könnte überspitzt die These formuliert werden, dass ‚die helle Seite der Macht‘, vertreten durch Luke Skywalker, eine (wirtschafts)liberale Haltung befürwortet. ‚Die dunkle Seite der Macht‘ dagegen, repräsentiert durch Lukes Vater Darth Vader, einer sozialistischen Haltung wohlgesonnen wäre, welche in eine totalitäre Macht mündet. Kritiker des modernen Wirtschaftens würden dieser These sicherlich nicht folgen, sondern sie umkehren und zu widerlegen versuchen. Wir würden uns dieser These ebenfalls nicht anschließen, aber aus einem anderen Grund. Denn nach unserer Lesart ist die gewöhnliche politische Differenzierung, ob ein Mensch nun einer liberalen oder einer sozialistischen Haltung folgt, nicht zielführend, sondern sogar irreführend. Das im Folgenden vorgeschlagene Verständnis des Sternenkriegs zwischen freien Unternehmern und Bürokraten ergibt eine Erzählung ganz anderer Art, nämlich die, ob Menschen Dinge tun, welche entweder das Vertrauen oder das Misstrauen untereinander verstärken. Die Schlussfolgerung daraus wäre, je mehr Misstrauen untereinander vorherrscht, desto mehr Bürokratie ist von Nöten. Bürokratie wäre also nicht nur lästig, sondern auch durchaus als Vertrauensersatz nützlich und sogar unentbehrlich. Entsprechend würde dies bedeuten, je mehr Vertrauen sich untereinander vorfindet, desto überflüssiger würden bürokratische Maßnahmen und hierarchische Organisationsverhältnisse werden. Letztendlich, und so lautet die These, wird der Machtkampf dadurch entschieden werden, ob Menschen vertrauensvoll agieren oder eben nicht. Ersteres – Vertrauensbildung – würde durch ‚die helle Seite der Macht‘ symbolisiert, zum Bürokratie- und Hierarchieabbau führen und den Weg hin zu einer zunehmenden Selbstbestimmtheit ermöglichen. ‚Die dunkle Seite der Macht‘ würde das Sähen von Misstrauen symbolisieren. Misstrauen untereinander würde Bürokratie- und einen Hierarchieaufbau rechtfertigen und damit den Weg hin zu einer schleichenden Fremdbestimmtheit ebnen. Ein episch anmutender Machtkampf zwischen Gut und Böse – Freiheit und Unfreiheit.
Im Folgenden werden die zwei unterschiedlichen Organisationstypen vereinfacht gegenübergestellt. Die Bürokraten auf der einen Seite und die sich frei selbstorganisierenden Unternehmer auf der anderen. Die zwei Organisationstypen – freie Unternehmer und Bürokraten – können hinsichtlich zweier Fragen unterschieden werden: Wie sollte eine Organisation möglichst erfolgreich geführt werden? Und welche Art von Beziehungsnetz und Machtgefälle zwischen den Akteuren innerhalb einer Organisation erscheint gerechtfertigt? Kurz: Für eine freie Selbstorganisation ist Vertrauen und eine dezentrale Entscheidungsfindung notwendig. Fremdorganisation setzt dagegen auf Kontrolle und hierarchische Entscheidungsfindungen.
Geschichtlich und gegenwärtig lassen sich viele Befunde über das Spannungsverhältnis zwischen freiem Unternehmertum und Bürokratie entdecken. Befunde über Dinge, die Menschen tun bzw. getan haben, die Anhaltspunkte dazu liefern, ob das zwischenmenschliche Vertrauen ausgereicht hat oder ein Vertrauensersatz zum Einsatz kam. Insbesondere materielle Hinterlassenschaften gewähren Einblicke in die geschichtliche Entwicklungstendenz von eher selbstorganisierten oder bürokratisch geführten Organisationen. Zeugnisse dieses fortwährenden Kampfes liegen uns in Form verschiedener archäologischer Funde vor. Es bedarf allerdings einiger Forschungsarbeit, um sie zum Sprechen zu bringen. Detektivischer Spürsinn, genaue Kenntnis der jeweiligen Kultur und soziales Einfühlungsvermögen sind gefragt, wenn man Mutmaßungen darüber anstellen möchte, wie es um das zwischenmenschliche Vertrauen in längst vergangenen Zeiten bestellt war. Die folgenden Texte beschäftigen sich mit diesen Fragen. Ihre Untersuchungsgegenstände stammen aus weit auseinanderliegenden Regionen und Zeiten, z.B. von Inseln im Westpazifik und aus dem Norden Ghanas.

Tonnenschwerem oder unsichtbarem Geld – wem kann man vertrauen?

Josué Manuel Quintana Diaz nimmt uns in seinem Beitrag mit auf die Spurensuche nach den Gemeinsamkeiten zweier scheinbar unvergleichbarer Zahlungsmittel: das tonnenschwere Steingeld, welches nur auf der Inselkette Yap Verwendung findet, und ,Bitcoins‘, virtuelles Geld für den Zahlungsverkehr im Internet. Ein Merkmal, das Steingeld und Bitcoin als symbolisches Wertäquivalent vereint, ist die Qualität, als Zahlungsmittel ein Gemeingut zu sein. Ein solches Gemeingut ermöglicht es, innerhalb eines Wirtschaftssystems den Besitz an einer Sache und dessen Übertragung dezentral und autonom zu organisieren. Auf diese Weise können Transaktionen durchgeführt werden, ohne dass dabei einzelnen privaten Personen oder öffentlichen, legitimierten, zentralen Instanzen die Buchführung und somit die Eigentumsverwaltung anvertraut wird. Die Transaktionskosten sind im Vergleich zu dem gegenwärtig etablierten Zahlungsverkehr über Banken somit nicht nur geringer, sondern auch das Ausfallrisiko der zentralen Instanz entfällt. Die Konsensfindung und Kommunikation über getätigte Zahlungen wird im Fall von Steingeld über ein soziales Protokoll sowie das kollektive Gedächtnis geregelt. Was in Face-to-Face-Gesellschaften informell lokal abgewickelt werden kann, findet im Internetzeitalter auf der Grundlage eines technisch gestützten Protokolls und kollektiven Gedächtnisses (Computernetzwerk) global statt. Bitcoins und Steingeld stellen somit einen Befund für eine bürokratiefreie Selbstorganisation dar.

Market Money

Lassen wir die Inselkette Yap hinter uns und folgen Geraldine Schmitz auf den Central Market in Tamale, Nordghana. Beim Handel auf dem Markt geht es in erster Linie nicht darum, großen Profit zu machen. Vielmehr geht es darum, den Handel am Laufen zu halten, damit das Geld weiter im Fluss bleibt, damit man jeden Tag genug Geld hat, um seine Familie zu versorgen. Bezahlt wird dort mit ‚market money‘. Es handelt sich dabei um den Cedi, die gängige Währung Ghanas, jedoch befinden sich die Scheine in schlechtem materiellen Zustand. Der Central Market von Tamale ist ein ‚informeller Markt‘, er kommt ohne Kartenzahlung aus, alles wird mit Bargeld erledigt. Das Vertrauen in den formellen Markt, also die durch Behörden, Banken und den Staat geregelte Wirtschaft, ist gering. Schmitz führt aus, dass der selbstorganisierte Zusammenhalt informeller Märkte sich in Krisenzeiten aufgrund der etablierten Vertrauensverhältnisse als der robustere erweist. Man misstraut der Bürokratie, aber vertraut seinen Handelspartnern. Market Money hebt, ähnlich wie im Fall des Bitcoin und Steingeldbefunds, den informellen selbstorganisierten Charakter des Marktes als Teil der Lebenswelt von Händlern und Kunden hervor. Hierbei lässt sich die Vermutung bestätigen, dass in Krisenzeiten der selbstorganisierte Zusammenhalt informeller Märkte sich aufgrund der etablierten Vertrauensverhältnisse als der robustere erweist. Market Money symbolisiert diese Form von informeller Selbstorganisation.

Der Siegeszug der Bürokratie

Anne-Birte Binder nimmt uns in ihrem Beitrag mit in den Vorderen Orient. Sie sucht nach den Ursprüngen und der Entwicklung der Bürokratie. Dort entstand vor rund 8000 Jahren eine frühe Form der Verwaltungspraxis zum Eigentumsnachweis an Dingen. Durch Markierungen an Gefäßen konnte deutlich gemacht werden, welcher Person, Familie oder sonstigen sozialen Einheit das Gefäß einschließlich Inhalt gehört. Spezielle Verschlüsse, Plomben vergleichbar, zeigten zum einen den Besitzer an und dienten gleichzeitig als eine erste Form der Diebstahlsicherung. Die Kennzeichnung der Verschlüsse geschah durch Siegel. Dadurch konnte niemand unbemerkt ein Gefäß öffnen, denn die zerbrochene Siegelung konnte ohne das Originalsiegel nicht wieder hergestellt werden. Die Bruchstücke wurden in Lagerräumen aufbewahrt und dienten als Nachweis für gelieferte und auf Vollständigkeit geprüfte Güter. Waren und Lieferungen konnten so kontrolliert und verwaltet werden. Ein Fall von früher Bürokratie, welcher den Nutzen der Bürokratie als Vertrauensersatz verdeutlicht.

Wie modern war die antike Wirtschaft?

„Wie modern war die antike Wirtschaft?“ fragt Lars Heinze. Auf der einen Seite steht die These, dass die antike Wirtschaftsordnung ‚primitiv‘ war und im Wesentlichen über die Regelung des Bedarfs einzelner Haushalte nicht allzu weit hinausreichte. Andere meinen, die antike Wirtschaft als prämodern einordnen zu können, da die Selbstorganisation der Marktwirtschaft bereits in weiten Teilen formalisiert war, auf Erwerb abzielte und somit bürokratische Eingriffe wie in modernen Gesellschaften zur Tagesordnung gehörten. In beiden Fällen, so scheint es, erweist sich die Bürokratie in krisenfreien Zeiten als nützlicher Vertrauensersatz und Garant für formalisierte und anonymisierte Markttransaktionen. In Krisenzeiten steht dagegen dieselbe Bürokratie wie jeder andere Vertrauensersatz selbst auf der Probe. Ein bereits geknüpftes Vertrauensnetz innerhalb der informellen und lokalen Strukturen kommt zum Vorschein und gewährleistet das Fortbestehen der selbstorganisierten Lebenswelt.

„Kontrolle ist gut, Vertrauen besser“

Führen die Dinge, die Menschen in der heutigen modernen Wirtschaft tun, nun eher dazu, dass das zwischenmenschliche Netz an Vertrauen untereinander verstärkt oder geschwächt wird? Trifft ersteres zu, dürften ohne Zweifel Forderungen nach Deregulierung sowie Bürokratieabbau offene Türen einrennen. Führen aber die Dinge, die Menschen tun, um sich im Vorteilstausch und in internationaler Konkurrenz wirtschaftlich zu behaupten, dazu, dass systematisch einzelwirtschaftliche von gesamtwirtschaftlichen Interessen abweichen, Gewinne privatisiert und Kosten vergemeinschaftet werden, dann wird vermutlich der Verwaltungsapparat wachsen. Bürokratie wäre insofern nicht nur lästig, sie stellt einen durchaus nützlichen und in weiten Teilen bereits unentbehrlichen gesellschaftlichen Ersatz für Vertrauen dar. Das Spannungsverhältnis zwischen Selbstorganisation und Fremdorganisation, zwischen Vertrauen und Kontrolle, zwischen Unternehmern und Bürokraten bleibt und stellt daher ein Dilemma dar. Einerseits, weil bei fehlendem zwischenmenschlichen Vertrauen verlässliche bürokratische Strukturen eine Voraussetzung darstellen, um unternehmerisches Handeln zu ermöglichen. Andererseits wird selbstorganisiertes unternehmerisches Handeln und somit der Organisationserfolg durch bürokratische Eingriffe gleichzeitig eingeschränkt. Ein Teufelskreis, der durch gesätes Misstrauen verstärkt, aber nur durch Vertrauensbildung durchbrochen werden kann. Ein fortwährender Machtkampf, der mit Blick auf die ‚Sternenkrieg‘-Analogie nur dadurch entschieden werden kann, ob Menschen Dinge tun, die entweder Vertrauen oder Misstrauen stiften. In dem Sinne ein ewig wiederkehrender Lernprozess: Menschen tun Dinge, „möge die Macht mit Dir sein“!

 

  — Anne-Birte Binder, Lars Heinze, Josué Manuel Quintana Diaz und Geraldine Schmitz 

Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

Die Yap-Inseln (ein im Archipel der Westkarolinen gelegenes Atoll im Pazifik)

Menschen | Tun | Dinge Wirtschaft und Verwaltung

Was haben
Steingeld und
Bitcoins
gemeinsam?

Was als Zahlungsmittel akzeptiert wird, hat sich im Laufe der Zeit geändert und so durchläuft auch die Art und Weise, wie Zahlungen durchgeführt werden, einen stetigen Wandel. Im Folgenden werden zwei Zahlungsmittel gegenübergestellt, die aufgrund ihrer unterschiedlichen stofflichen Natur scheinbar keine Vergleichbarkeit aufweisen. Physisches Steingeld, welches nur auf der Inselkette Yap im Südpazifik Verwendung findet und bis zu vier Tonnen wiegt und Geld bestehend aus virtuellen bits wie im Fall von ‚Bitcoins‘, welche, um Zahlungen jeglicher Art durchzuführen, weltweit über das Internet nachgefragt und angeboten werden können. Was sollen diese beiden Geldformen gemeinsam haben? Eine Merkmalsausprägung, die Steingeld und Bitcoin als symbolisches Wertäquivalent vereint, ist, dass beide nachgefragten Zahlungsmittel weder ein Privatgut, noch ein öffentliches Gut, sondern ein Gemeingut repräsentieren. Ein solches Gemeingut als Zahlungsmittel ermöglicht es, innerhalb eines Wirtschaftssystems wie z.B. auf der Inselkette Yap die Sachherrschaft an dem Zahlungsmittel und dessen Übertragung dezentral und autonom zu organisieren. Dezentral bezieht sich darauf, dass keine zentrale Instanz durchlaufen werden muss, sondern das Zahlungsmittel direkt übertragen werden kann. Autonom bezieht sich auf die Fähigkeit, sich ohne äußere Einflüsse selbst zu organisieren, um die Sachherrschaft an dem Zahlungsmittel zu gewährleisten. Auf diese Weise können Transaktionen durchgeführt werden, ohne dass dabei einzelnen privaten Personen oder öffentlich legitimierten zentralen Instanzen die Buchführung und somit die Eigentumsverwaltung anvertraut werden müsste. Ein akzeptiertes Gemeingut als Zahlungsmittel ermöglicht auch, dass jeder Geldnachfragende grundsätzlich auch die Möglichkeit hat, das Geldangebot selbst zu produzieren und somit einen Anspruch auf den Geldschöpfungsgewinn – die sogenannte Seigniorage, die sich als Differenz zwischen dem Marktwert und den Produktionskosten des Zahlungsmittels ergibt – erhält.
Für einige stellen Bitcoins nur ein weiteres Zahlungsmittel dar, um Transaktionen bargeldlos durchzuführen. Für andere wiederum stellen sie bereits ein alternatives Anlagesegment dar, um damit auf fallende oder steigende Preise zu spekulieren oder Vermögen zu diversifizieren. Ohne die genannten Sinnvorschläge entkräften zu wollen, wird im Folgenden hervorgehoben, dass es sich bei Bitcoins um ein kryptografisches Computerprotokoll handelt. Die Begrifflichkeit Kryptografie beschreibt das vom Protokoll verwendete digitale Signaturverfahren. Durch dieses Verfahren lassen sich die Urheberschaft sowie Integrität einer digital signierten Transaktion nur im Besitz eines entsprechenden Verifikationsschlüssels feststellen. Intendierte Transaktionen können dadurch zu einem einwandfreien Abschluss gebracht werden. Mehr noch: Dieses verwendete digitale Signaturverfahren ermöglicht, Transaktionen jeglicher Art – trotz fehlenden zwischenmenschlichen Vertrauens – dezentral sowie autonom über das Internet, in anderen Worten bürokratiefrei, durchzuführen.
Das Steingeld auf der Inselkette Yap ist, im Gegensatz zu Goldmünzen, Geldscheinen oder Sichtguthaben auf dem Girokonto, als symbolisches Wertäquivalent schwer bis unbeweglich und dennoch als Zahlungsmittel für die Inselbewohner von Nutzen und daher nachgefragt, um grundsätzlich alle möglichen Arten von Transaktionen auf der Insel durchzuführen. Für die Marktteilnehmer auf der Inselkette Yap bedurfte es weder an Wissen, wo genau das Steingeld sich befand, noch an Vertrauen in eine zentrale Instanz, welche buchführend alle Transaktionen überblickte, die jeweilige Eigentumsübertragung an Steingeld bezeugte und den Wert des Zahlungsmittels gewährleistete bzw. sich bei einem Zahlungsausfall für den fehlenden Betrag verbürgen hätte müssen. Selbst als Steingeld beim Transport zwischen den Inseln auf den Meeresgrund versank, akzeptierten die Inselbewohner das verschollene Steingeld als Zahlungsmittel und übertrugen die Verfügungsrechte daran ununterbrochen weiter. Dieser Befund zeigt, dass es offenbar nicht ausreichte, dass ein Inselbewohner wusste, wer im Besitz an einem Steingeld war bzw. gewesen war. Der jeweilige Inselbewohner musste dies auch den restlichen Inselbewohnern kommunizieren, so dass ein Konsens über die Sachherrschaft an dem Zahlungsmittel entstehen konnte und Trittbrettfahrer ausgeschlossen werden konnten. Bestand ein solcher Konsens darüber, konnte sogar versunkenes Steingeld wie auch ein Bitcoin als vollkommen virtuelles, physisch nicht existentes Zahlungsmittel akzeptiert werden, ohne einer privaten Person oder einer öffentlichen zentralen Instanz zu vertrauen. Milton Friedman verglich 1991 das Steingeld mit dem Goldstandard. Das primitive Steingeld als Zahlungsmittel ermöglicht demnach eine ebenso reale Kaufkraft und ein ebenso rationales Wirtschaftssystem wie das Zahlungsmittel eines modernen Wirtschaftssystems, welches unter erheblichen Produktionskosten ein Metall aus dem Erdboden gefördert, in Goldbarren verarbeitet und in unterirdischen Tresoren als symbolisches Wertäquivalent betriebskostspielig gelagert hatte. Die Buchführung über den Eigentumsbestand übernahm die bürokratisch legitimierte Zentralbankverwaltung. Der Steingeldbefund offenbart aber noch mehr, nämlich einen substanziellen Aspekt des Eigentums als Voraussetzung für bürokratiefreie Transaktionen jeglicher Art. Eigentum wird nicht dadurch zu Eigentum, dass jemand glaubt, er habe das Recht über etwas zu verfügen, um daraus exklusiv einen Nutzen ziehen zu können, sondern weil andere dies auch glauben. Wurden beispielsweise die Besitzer des Steingelds auf der Insel kommuniziert und bestand ein Konsens über die Eigentumsordnung, dann war die Buchführung über die bestehende Verteilung der Sachherrschaften nicht erforderlich, da jeder Inselbewohner bereits mental die Buchführung vorgenommen hatte. Somit wurde die Eigentumsordnung Teil des Allgemeinwissens auf der Insel und alle Inselbewohner rekurrierten auf das bestehende Allgemeinwissen beziehungsweise das kollektive Gedächtnis, um weitere Transaktionen durchzuführen. Meinungsverschiedenheiten darüber, wer die Sachherrschaft an einem Zahlungsmittel besaß oder nicht, konnten somit a priori beigelegt werden. Das auf Steingeld fußende Wirtschaftssystem stellt also eine unternehmerische Maßnahme dar, fehlendes Vertrauen zwischen ‚Vertragsparteien‘ unbürokratisch aufzuheben. Das Pendant zu diesem bürokratiefreien beziehungsweise unternehmerisch organisierten Wirtschaftssystem auf der Inselkette Yap stellt im digitalen Zeitalter das kryptographische Bitcoin-Protokoll dar. Letzten Endes sind Bitcoins so unbeweglich wie das Steingeld und werden nicht von einem Ort zu einem anderen transportiert. Wie im Fall von Steingeld werden alle Beteiligten lediglich über die aktuelle Sachherrschaft und deren Übertragung informiert, nur diesmal über das Internet, was eine globale Reichweite und ein technisch gestütztes kollektives Gedächtnis über alle durchgeführten Transaktionen ermöglicht. Im übertragenen Sinne stellt das soziale Netzwerk auf der Insel Yap das weltweite technische Netzwerk an Computerknoten dar, das Steingeld, die Bitcoins und die Inselbewohner sind diejenigen, die im weltweiten Netz miteinander verbunden sind und ein Zahlungsmittel akzeptieren, indem sie es nachfragen.
Kryptographische Computerprotokolle bedeuten für das Zeitalter des Internets daher das, was das Steingeld und die damit verbundenen informellen Regeln eines sozialen Protokolls für die Inselbewohner auf der Inselkette Yap zur Hochzeit seiner Verwendung dargestellt hat – eine bürokratiefreie Art und Weise, Eigentum zu verwalten und Transaktionen durchzuführen. Diesen dezentralen und autonomen Organisationsansatz, Transaktionskosten zu sparen, haben Steingeld und Bitcoins gemeinsam. Zwei Unterschiede lassen sich dennoch hinsichtlich der Anwendbarkeit der beiden Protokolle feststellen: Das Steingeldprotokoll bezieht sich ausschließlich auf die unbürokratische Sachherrschaft an Steingeld und die unbürokratische Übertragung der Verfügungsrechte daran. Kryptografische Computerprotokolle lassen sich dagegen für die bürokratiefreie Übertragung aller möglichen denkbaren Transaktionsobjekte, unter Berücksichtigung aller vorstellbaren einzuhaltenden Übertragungs- regeln, verwenden beziehungsweise programmieren. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Protokollen liegt daran, dass Kommunikation, Konsensfindung sowie die Einhaltung der sozialen Regeln und Sanktionen im Fall des Steingeldes auf ein überschaubares soziales Netzwerk beschränkt sind, um so die stetige mündliche Aktualisierung des Allgemeinwissens über die bestehende Eigentumsordnung zu gewährleisten. Im Fall von Bitcoins folgt die Kommunikation und Konsensfindung innerhalb eines weltweit verteilten technischen Computernetzwerks den Regeln des zugrundeliegenden Computerprotokolls, um eine verlässliche Eigentumsordnung zu gewährleisten. Nur die Befolgung der Regel des Protokolls wird monetär belohnt, insofern wird nicht-kooperatives Verhalten sanktioniert.
Eine verlässliche Eigentumsordnung ist die Grundlage für unternehmerisches Handeln. Erfolgreiches unternehmerisches Handeln – frei von bürokratischen Eingriffen – setzt zwischenmenschliches Vertrauen voraus. Eine funktionierende Eigentumsordnung wird zukünftig daher bei fehlendem zwischenmenschlichen Vertrauen nur durch einen Vertrauensersatz aufrechterhalten werden können, sei es durch die bürokratische ‚Herrschaft der Verwaltung‘ einer legitimierten zentralen Instanz oder bürokratiefrei durch kryptographische Computerprotokolle, die eine dezentrale und autonome Organisation von Transaktionen auf Grundlage des Internets ermöglichen. Fazit: Ein Vertrauensersatz bzw. Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser.

Was sind Bitcoins?

Für einige stellen Bitcoins nur eine weiteres Zahlungsmittel dar, um Transaktionen bargeldlos durchzuführen. Für andere wiederum stellt es bereits ein alternatives Anlagesegment dar, um damit auf fallende oder steigende Preise zu spekulieren oder Vermögen zu diversifizieren. Ohne die vorigen Sinnvorschläge entkräften zu wollen, wird im Folgenden hervorgehoben, dass es sich bei Bitcoins um ein kryptographisches Computerprotokoll handelt. Die Begrifflichkeit Kryptographie beschreibt das vom Protokoll verwendete digitale Signaturverfahren. Dieses Verfahren ermöglicht die Urheberschaft sowie Integrität einer digital signierten Transaktion nur durch den Besitz eines entsprechenden Verifikationsschlüssels festzustellen. Intendierte Transaktionen können dadurch zu einem einwandfreien Abschluss gebracht werden. Mehr noch.
Menschen | Tun | Dinge Wirtschaft und Verwaltung

Josué Manuel Quintana Diaz

JOSUÉ MANUEL QUINTANA DIAZ ist Volkswirt und ehemaliger Projektmanager der KfW Entwicklungsbank. Ab 2006 hat er in Münster, Mexiko Stadt, Paris und Frankfurt am Main studiert und gearbeitet. Seit 2014 ist er Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung und Mitglied des interdisziplinären Clusters Forschung für und über die ‚Große Transformation‘ sowie assoziiertes Mitglied des Exzellenzclusters ,Die Herausbildung normativer Ordnungen‘. Sein Forschungsgebiet sind Wachstumstheorien und komparative Institutionsökonomik aus dem Blickwinkel des Anthropozäns. In seiner Forschung interessiert ihn dabei insbesondere die Frage, ob die nachhaltigen Entwicklungsziele (SDG) durch die mit voranschreitenden Modernisierungsprozessen und ihren Begleiterscheinungen assoziierte ,Große Transformation‘ im Sinne Karl Polanyis erreicht werden können.

Digitalisierung und Dezentralisierung – eine Welt im Wandel

Kryptographische Computerprotokolle lassen sich für die bürokratiefreie Übertragung für alle möglichen denkbaren Transaktionsobjekten verwenden, beziehungsweise programmieren. Im Fall von Bitcoin folgt die Kommunikation und Konsensfindung innerhalb eines weltweit verteilten technischen Computernetzwerks den Regeln des zugrundeliegenden Computerprotokolls. Nur die Befolgung der Regel des Protokolls wird monetär belohnt, insofern wird Nicht-Kooperation sanktioniert.

Zeichnung: Martina Miocevic, nach einer Grafik von Jake Yocom-Piatt

Wem gehört das Geld?

Eine Merkmalsausprägung, die Steingeld und Bitcoin als symbolisches Wertäquivalent vereint, ist, dass beide nachgefragten Zahlungsmittel weder ein Privatgut, noch ein öffentliches Gut, sondern ein Gemeingut repräsentieren. Ein solches Gemeingut als Zahlungsmittel ermöglicht es, innerhalb eines Wirtschaftssystems wie z.B. auf der Inselkette Yap die Sachherrschaft an dem Zahlungsmittel und dessen Übertragung dezentral und autonom zu organisieren. Dezentral bezieht sich darauf, dass keine zentrale Instanz durchlaufen werden muss, sondern das Zahlungsmittel direkt übertragen werden kann. Autonom bezieht sich auf die Fähigkeit, sich ohne äußere Einflüsse selbst zu organisieren, um die Sachherrschaft an dem Zahlungsmittel zu gewährleisten. Auf diese Weise können Transaktionen durchgeführt werden, ohne dabei einzelnen privaten Personen oder öffentlichen legitimierten zentralen Instanzen die Buchführung und somit die Eigentumsverwaltung anzuvertrauen.

Wann wird Eigentum zu Eigentum?

Der Steingeldbefund offenbart aber noch mehr, nämlich einen substanziellen Aspekt des Eigentums als Voraussetzung für bürokratiefreie Transaktionen jeglicher Art. Eigentum wird nicht dadurch zu Eigentum, dass jemand glaubt, er habe das Recht über etwas zu verfügen, um daraus exklusiv einen Nutzen ziehen zu können, sondern weil andere dies auch so glauben. Wurden beispielsweise die Besitzer des Steingelds auf der Insel kommuniziert und bestand ein Konsens über die Eigentumsordnung, dann war die Buchführung über die bestehende Verteilung der Sachherrschaften nicht erforderlich, da jeder Inselbewohner bereits mental die Buchführung vorgenommen hatte. Das Pendant zu diesem bürokratiefreien organisierten Wirtschaftssystem auf der Inselkette Yap stellt im digitalen Zeitalter das kryptographische Bitcoin-Protokoll dar.

Die Produktions- und Aufbewahrungskosten von Gold sind teuer.

Milton Friedman verglich 1991 das Steingeld mit dem Goldstandard. Das primitive Steingeld als Zahlungsmittel ermöglicht demnach eine ebenso reale Kaufkraft und rationales Wirtschaftssystem wie das Zahlungsmittel eines modernen Wirtschaftssystems, welches unter erheblichen Produktionskosten ein Metall aus dem Erdboden gefördert, in Goldbarren verarbeitet und in unterirdischen Tresoren als symbolisches Wertäquivalent betriebskostspielig gelagert hatte. Die Buchführung über den Eigentumsbestand übernahm die bürokratisch legitimierte Zentralbankverwaltung.

Bildquelle
Foto: Chepry

Bitcoins werden in einem holländischen Café akzeptiert

Was als Zahlungsmittel akzeptiert wird, hat sich im Laufe der Zeit geändert und so durchläuft auch die Art und Weise wie Zahlungen durchgeführt werden einen stetigen Wandel. Im Folgenden werden zwei Zahlungsmittel gegenübergestellt, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen stofflichen Natur scheinbar keine Vergleichbarkeit aufweisen. Zum einen physisches Geld, Steingeld, welches nur auf der Inselkette Yap im Südpazifik Verwendung findet und bis zu vier Tonnen wiegt. Zum anderen virtuelles Geld, “Bitcoin”, welches, um Zahlungen jeglicher Art durchzuführen, weltweit über das Internet nachgefragt und angeboten werden kann.

Steingeldfund auf der Insel Yap

Das Steingeld auf der Inselkette Yap ist, im Gegensatz zu Goldmünzen, Geldscheinen oder Sichtguthaben auf dem Girokonto als symbolisches Wertäquivalent, schwer bis unbeweglich und dennoch als Zahlungsmittel für die Inselbewohner von Nutzen und daher nachgefragt, um grundsätzlich alle möglichen Arten von Transaktionen auf der Insel durchzuführen. Für die Marktteilnehmer auf der Inselkette Yap bedurfte es weder an Wissen wo genau das Steingeld sich befand noch an Vertrauen in eine zentrale Instanz, welche buchführend alle Transaktionen überblickt, die jeweilige Eigentumsübertragung an Steingeld bezeugt und den Wert des Zahlungsmittels gewährleistet bzw. sich bei einem Zahlungsausfall für den fehlenden Betrag verbürgen müsste.
Bildquelle
Foto: Eric Guinther 2002

Bitcoin Explained

Ein Kurzvideo (3:23 Min) über Bitcoins, einer dezentralisierten digitalen Währung.

 

Directed, Designed and Animated by Duncan Elms - duncanelms.com
Written and Voiced by Marc Fennell - marcfennell.com

Software used: After Effects and Cinema 4D

Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

Tell Abada, Irak, und Arslantepe, Türkei

Menschen | Tun | Dinge Wirtschaft und Verwaltung

Der Siegeszug
der Bürokratie —
Eine altorientalische
Erfindung mit
Zukunft

Bürokratie ist ein Begriff, der in den meisten Menschen Unbehagen hervorruft. Denn die Bürokratie hat einen schlechten Ruf. Einen sehr schlechten. Mit ihr verbindet man bergeweise Papiere und unendlich lange Wartezeiten. Dieser negative Beigeschmack ist auch nicht ganz unbegründet. Bürokratie entsteht, wenn es kein Vertrauen innerhalb einer Gruppe gibt. Trotzdem begleitet uns die Bürokratie oftmals unbemerkt durch den Alltag und wir nutzen sie zu unserem Vorteil. Wir unterschreiben einen Mietvertrag, in dem klar geregelt ist, was Rechte und Pflichten von Mietern und Vermietern sind. Das dazugehörige Übergabeprotokoll vermerkt verbindlich für beide Parteien, welche Mängel bestehen und welche von wem behoben werden müssen. Beim Einkaufen, vor allem bei Kleidung oder Elektrogeräten, nehmen wir den Kassenzettel mit, um bei einer Reklamation nachweisen zu können, dass wir den Artikel innerhalb der Garantiefrist erworben haben. Dies sind nur zwei Beispiele, in denen wir es gewohnt sind, dass uns und unserem Wort nicht vertraut wird. Bürokratie, oder allgemeiner Verwaltung, ist also nicht nur lästig, sie ist durchaus nützlich. Und genau darin liegt ihr Ursprung.
Die Anfänge von Verwaltung gehen auf eine Entwicklung der Gesellschaft vor rund 13.000 Jahren zurück. Zu dieser Zeit entstanden im Nahen Osten die ersten dauerhaft bewohnten Siedlungen. Durch die Veränderung der Lebensweise von saisonal wandernden zu überwiegend sesshaften Gruppen änderte sich auch die Gesellschaft. Man kann eine Entwicklung beobachten, die für die Entstehung von Bürokratie notwendig war: die Kennzeichnung von Eigentum. Was heutzutage ganz alltäglich ist, war zu dieser Zeit etwas Neues und zeigt ein aufkommendes Bedürfnis, die eigenen Dinge von denen anderer abzugrenzen. Durch Markierungen an z.B. Gefäßen wurde deutlich gemacht, welcher Person, Familie oder sonstiger sozialer Einheit der Container und sein Inhalt gehört. Seit rund 8000 Jahren werden auch Verschlüsse an Gefäßen angebracht, die vor unerlaubtem Zugriff schützen. Sie funktionierten wie Plomben an Wasserzählern oder Notbremsen in Zügen und U-Bahnen. Sie verhindern nicht, dass man die Plombe öffnet, zeigen aber, dass es grundsätzlich nicht erlaubt ist. Die Verschlüsse bestanden meist aus einem Stück Stoff oder Leder. Dieses wurde über die Öffnung eines Gefäßes gelegt und am Rand mit einer Schnur umwickelt. Die Enden der Schnur wurden mit einem Klumpen feuchten Tons fixiert. Alternativ konnte der Ton auch – wie ein Kronkorken – direkt über die gesamte Öffnung gedrückt werden. Auf diese Tonklumpen wurde dann, wie auch heutzutage bei Plomben noch üblich, ein Siegel aufgedrückt. Damit wurde sichtbar gemacht, wem dieser Behälter und sein Inhalt gehören. Nach etwa einem Tag ist der Ton durchgetrocknet und das Siegel muss aufgebrochen werden, um den Verschluss zu öffnen. Dadurch konnte niemand unbemerkt ein Gefäß öffnen, denn die zerbrochene Siegelung konnte ohne das Originalsiegel nicht wieder hergestellt werden.
Die ältesten Siegel sind Stempel, in die eine Darstellung eingeschnitten wurde. Beim Eindrücken in weichen Ton wird das Bild als Positiv abgebildet. Mit ihnen wurden Verschlüsse von Gefäßen, Körben u.a., sowie später auch Türen, gesiegelt. Für die damalige Bürokratie werden diese Siegelungen erst dann wichtig, wenn sie geöffnet und das Siegel gebrochen wird. Denn diese Bruchstücke bzw. Teile davon wurden in Lagerräumen aufbewahrt und dienten wahrscheinlich als Nachweis für gelieferte und auf Vollständigkeit geprüfte Güter. Ab etwa 5000 v. Chr. lässt sich anhand solcher gesiegelten Verschlüssen eine zentrale Lagerwirtschaft rekonstruieren. In Tell Abada (Irak) wurde ein Gebäude ausgegraben, in dem in bestimmten Räumen eine ganze Reihe solcher geöffneter Verschlüsse gefunden wurden. Dieser Befund zeigt, dass in diesen Räumen Waren gelagert und geöffnet wurden. Die einzelnen Siegel zeigen, dass die Waren von verschiedenen Personen oder Familien an dieses Gebäude geliefert wurden.
Räume oder ganze Gebäudeteile, in denen geöffnete Siegelungen gesammelt und gelagert wurden, finden sich in den folgenden Perioden in den meisten Siedlungen. Sie sind in prähistorischer Zeit (bis zum Ende des 4. Jt. v. Chr.) der einzige Nachweis von Verwaltungsmechanismen. Im 4. Jt. v. Chr. kann in Arslantepe (Türkei) belegt werden, dass die Siegelungen regelmäßig entsorgt wurden, um eine Vermischung von alten und neuen zu vermeiden. Sie dienten vermutlich dem Nachweis, dass eine Person bestimmte Güter geliefert hatte bzw. diese auf ihre Vollständigkeit hin überprüft wurden. Die geöffneten Verschlüsse geben dem heutigen Betrachter zwar keinen Aufschluss mehr über die Art der gelieferten Güter, für die damaligen Verwalter waren aber anscheinend die in den Siegelungen enthaltenen Informationen oftmals ausreichend. Sicher ist, dass zumindest der Lieferant bzw. der Absender der Ware durch das Siegel erkennbar war.
Um den Umfang der übertragbaren und speicherbaren Informationen in der Bürokratie zu erhöhen, wurden wahrscheinlich seit dem 8. Jt. v. Chr. neben Siegelungen kleine aus Ton gefertigte Steine, sogenannte Token oder Calculi, eingeführt. Diese Token konnten verschiedene Formen aufweisen, leicht gewölbte Scheiben, Tetraeder, Kegel oder Stäbe oder konnten Ähnlichkeiten mit Tieren wie Rindern oder Schafen haben. Zusätzlich konnten sie durch Ritzungen gekennzeichnet sein. Sie repräsentieren jeweils eine Ware in einer bestimmten Menge. In mehreren Fällen wurden Token in einer runden und hohlen Kugel aus Ton, einer s.g. Bulla, gefunden.
Die Bulla selbst war in den meisten Fällen gesiegelt. Token in einer Bulla dienten wahrscheinlich als eine Art Warenbegleitschein. Sie wurden zusammen mit der Ware verschickt. Die Token symbolisieren Art und Menge der Ware. Treten mehrere gleiche Token zusammen auf, wurde von dieser Ware nicht die einfache Menge, sondern die so vielfache, wie an Token vorhanden war, verschickt. Die Bulla hält alle Token zusammen und das Siegel verhindert, dass jemand während des Transports einzelne Token und die entsprechende Ware abzweigen kann. Zu dieser Zeit übernahm das Rollsiegel die Stelle des Stempelsiegels. Ein Rollsiegel besteht aus einem kleinen Steinzylinder mit eingraviertem, spiegelverkehrtem Bild. Es bietet gegenüber dem Stempelsiegel den Vorteil, dass man eine größere Fläche siegeln kann. Wird das Rollsiegel einmal aufgesetzt, kann man die kleine Walze ohne  Unterbrechung in beliebiger Länge über jeden formbaren Gegenstand abrollen. Das Rollsiegel ist seit dieser Zeit fester Bestandteil altorientalischer Gesellschaften und wurde in historischen Perioden auch als Unterschrift in Verträgen verwendet. Lediglich die Hethiter, die in der 2. Hälfte des 2. Jt. v. Chr. Zentralanatolien dominierten, verwendeten wieder das Stempelsiegel.Man vermutet, dass die Token Vorgänger der ersten Schriftzeichen waren, da einige von ihnen starke Ähnlichkeit mit den Zeichen auf den ältesten Tontafeln haben. Tatsächlich sind die ältesten schriftlichen Dokumente Verwaltungstafeln, die den Ein- oder Ausgang von Waren aus zentralen Lagern dokumentieren. Diese Entwicklung geht mit einer immer mehr zunehmenden Unterscheidung und Zentralisierung der Gesellschaft und Wirtschaft einher. Sie zeigt sich nicht nur durch die Einführung der Schrift, sondern auch durch immer differenziertere Architektur und Siedlungssystematik.
Am Ende des 4. Jt. v. Chr. treten diese Tontafeln neben den Siegelungen und den Token in Mesopotamien und dem westlichen Iran auf. Die Schriftzeichen repräsentieren wahrscheinlich jeweils ein Wort. Sie stehen für eine bestimmte Getreidesorten oder Rasse, Geschlecht und Alter eines Tieres sowie für Zahlen. Die meisten dieser ‚Texte‘ sind Listen, die eingehende und ausgehende Waren sowie Inventare festhalten. Dabei kann auch Sender bzw. Empfänger notiert werden. Es handelt sich hierbei also um die ältesten, schriftlichen Belege einer Wirtschaftsverwaltung. Diese ältesten Zeichen sind wahrscheinlich noch nicht an eine Sprache gebunden. Heutzutage können wir die Texte lesen, wie die Begriffe in der ursprünglichen Sprache aber hießen, lässt sich nicht mehr feststellen. Dass eindeutig eine Sprache, als erstes das Sumerische, durch die Keilschrift wiedergegeben wurde, entwickelte sich erst im folgenden 3. Jt. v. Chr. Ab dieser Zeit sind alle Arten von Texten, Verwaltungsurkunden, Verträge, Mythen u.a. belegt. Zum Ende des Jahrtausends hin wurden auch andere Sprachen wie das Akkadische geschrieben. Die Verwaltung ist im Wesentlichen aufgebaut wie die moderne. Kauf- und Pachtverträge, Abkommen zwischen Städten oder Staaten, Steuerabgaben und Adoptionsurkunden sind nur ein kleines Spektrum dessen, was in den folgenden Jahrtausenden auf Tontafeln festgehalten und in Archiven eingelagert wurde. Nur anstelle der Unterschrift steht dort noch immer das Siegel.
Trotz der Entwicklung der Schrift behalten das Siegel und gesiegelte Verschlüsse ebenso wie die Token bis mindestens zum Anfang des 2. Jt. v. Chr. in einigen Siedlungen eine eigene Bedeutung in der (Lager-)Verwaltung. In verschiedenen Orten sind geöffnete Verschlüsse gefunden worden, die – vergleichbar mit Keramik – nach dem Öffnen gebrannt wurden. Durch diesen Vorgang werden die Verschlüsse haltbar gemacht. Während ungebrannte Siegelungen aus luftgetrocknetem Ton bestehen, der sehr brüchig wird und wasserlöslich ist, sind gebrannte fest und weitestgehend wasserresistent. Token erscheinen sogar noch im 1. Jt. v. Chr. in gleicher Weise wie vor über 3000 Jahren. Die ältesten Belege für diese Verwaltungspraxis stammen aus der Zeit in der die erste Schrift entwickelt wurde (4. Jt. v. Chr.). Ob, wie viele und welche Verschlüsse nach dem Öffnen gebrannt und archiviert wurden, ist von Siedlung zu Siedlung verschieden. In vielen Siedlungen wurde diese Praxis überhaupt nicht angewendet, in anderen wurden alle Siegelungen gebrannt. Letzteres ist vor allem in Siedlungen mit einer ausgeprägten schriftlichen Verwaltung der Fall. Die Frage nach welchen Kriterien und warum Verschlüsse gebrannt wurden, ist Teil der aktuellen Forschung und kann hoffentlich in den kommenden Jahren beantwortet werden. Insgesamt blickt die moderne Verwaltung auf eine Jahrtausende alte Geschichte zurück. Sie hat sich seit ihren Ursprüngen zwar entwickelt, ihre einstige Bedeutung hat sie dabei aber nicht verloren.

3D-Scan Verschluss

3D-Scan und Modell: Nico Serba, Frankfurt University of Applied Sciences
Menschen | Tun | Dinge Wirtschaft und Verwaltung

Interview Anne-Birte Binder

Stell dir vor, du erklärst einem Laien vor Ort dein Promotionsthema.

Was sagst Du?

Eine sehr gute Frage. Als erstes würde ich mit einer Frage beginnen. Nämlich mit der Frage, warum es denn überhaupt so spannend sein könnte, oder für mich auch ist, sich mit Verwaltung und Bürokratie zu beschäftigen. Was ja eigentlich nicht als das spannendste Thema schlechthin aufgefasst wird, sondern eher als sterbenslangweilig. Und da es darauf meist keine Antwort gibt, sondern nur Achselzucken, würde ich dann erst einmal drauf eingehen, dass so winzige Kleinigkeiten, die total unscheinbar eigentlich sind, wie ein eingeritztes Kreuz auf einem Gefäß, was einem ja kaum auffällt, aber das das so einen großen Einfluss auf die gesamte Entwicklung der Menschheit hatte. Das ist uns gar nicht bewusst. Es sind so Kleinigkeiten, die zu einem riesengroßen Phänomen, wie zu einem komplett ausgebildeten Schriftsystem führen. Und das ist das Spannende. Das ist das, womit ich anfangen würde mein Thema zu erklären. Dass Kleinigkeiten uns zu Großem führen. Die Mücke wird zum Elefanten.

Wie gehst du dabei vor?

Ich lese viel Literatur. Ich arbeite aber auch mit meinem eigenen Material, was bisher noch nicht bearbeitet ist. Ich mache ganz viel und gleichzeitig nichts. Also mein eigenes Material besteht aus Verschlüssen verschiedenster Art, Verschlüsse von Türen, Verschlüsse von Gefäßen, Verschlüsse von Säcken, Körben. Also von allem im Prinzip, was man verschließen konnte oder wollte. Die meisten, die fotografiert und damit bearbeitbar für mich sind, sind mit einer Siegelung versehen. Diese Verschlüsse wurden natürlich geöffnet. Also ich habe keine geschlossenen Verschlüsse, sondern nur geöffnete Verschlüsse. Und manche von diesen geöffneten Verschlüssen sind eben auch gebrannt. Und das ist eben die Frage, die bisher in der Wissenschaft noch gar nicht bearbeitet wurde: warum man denn einen geöffneten Verschluss noch brennt. Das ist als würde man die Plombe in einer U-Bahn von der Notbremse, nachdem sie gezogen wurde, aufbewahren oder noch einmal konservieren. Warum tut man das? Diese Frage hat anscheinend bisher keiner gestellt, obwohl ich im Laufe meiner Recherche festgestellt habe, dass das gar nicht mal so selten war. Es gibt viele Siedlungen, wo das gemacht wurde. Es wurde auch publiziert, aber eben nur dass sie gebrannt sind, aber warum hat sich noch nie jemand gefragt. Schon lange bevor man schreiben konnte haben sie dies gemacht, was ja zeigt, dass Verwaltung relativ früh in der Gesellschaftsentwicklung eine wichtige Rolle gespielt hat. Und um dahinter zu kommen warum sie das gemacht haben und welche Rolle das in der Verwaltung genau gespielt hat, schaue ich nun die Motive nach. Also wenn verschiedene Verschlüsse mit einem gleichen Siegel versiegelt wurden sind, sind es dann auch immer die gleichen Arten von Verschlüsse, sind diese auf die gleiche Art gebrannt worden, wonach richtet sich das und welche Aspekte könnten eine Rolle gespielt haben. Es geht darum, wo sie gefunden worden sind, wo sie aufbewahrt wurden. Das sind verschiedene Aspekte, die mit rein fließen. Es wäre gut gewesen vor Ort zu sein, aber da 2011 der Bürgerkrieg in Syrien ausgebrochen ist und mein Material in Syrien liegt und ich ja mit der Promotion erst 2013 angefangen habe, muss ich mit den Daten leben, die ich nun hier habe. Ganz moderne Politik.

Gab es Momente der Überraschung während deiner Forschung?

Ganz viele. Bei mir lebt Forschung von Überraschungen, sowohl negativen als auch positiven.  Das macht die Forschung ja aus. Wenn ich vorher schon weiß, was hinten raus kommt und das alles ein grader Weg ist, dann ist das ja langweilig. Dann würde ich auch nicht forschen. Es sind ja gerade diese Überraschungen, egal ob positiv oder negativ, die das sind, was die Forschung ausmacht. Das irgendetwas kommt womit man nicht gerechnet hat. Es kann ja positiv sein, so dass man sagt, man erhält ganz neue Ergebnisse oder auch negativ, dass ich feststelle, ich stecke hier gerade in einer Sackgasse. Aber das macht es ja eben so spannend und deshalb forsche ich so gerne. Überraschungen, ja, ständig, andauernd, immer wieder.

Welchen Einfluss auf die heutige Forschung erhoffst du dir von deinen Forschungsergebnissen?

Na natürlich den mega Einfluss, so dass wir hinterher alles wissen. Hinterher wissen wir alles über alle Menschen, aus allen Zeiten, von allen Kontinenten. Nein, natürlich erhoffe ich mir einen Beitrag leisten zu können, zum einen die Verwaltungssysteme zu rekonstruieren und zu entschlüsseln, vor allem die, die vor der Entwicklung der Schrift entstanden sind. Mit der Schrift ist es natürlich etwas einfacher, weil du lesen kannst, dass der und der Bauer so und so viele Säcke Getreide gegeben hat und die wurden im Tempel gelagert. Das System lässt sich einfacher nachvollziehen. Aber wie gesagt, welche Rolle die Siegelungen in diesem System gespielt haben, ist nur bedingt bisher bekannt und erforscht und das ist der Beitrag den ich gerne leisten möchte. Also das Bild, das wir heute von prähistorischen Gesellschaften haben, dass ich dieses gerne vervollständigen möchte, weil diese doch meist komplexer waren und komplexer agiert haben, als es den meisten Menschen bekannt ist. Weil wenn man sich überlegt, dass sie Systeme verwendet haben, die so komplex sind, dass wir sie nicht ohne weiteres mal eben so rekonstruieren und verstehen können, dann zeigt das schon, dass sie sich viele Gedanken gemacht haben, wie sie ihren Staat oder ihren Haushalt oder ihre Institution geführt haben. So zu sagen die Rekonstruktion des prähistorischen Managements.

Wo siehst du dich in 10 Jahren?

In 10 Jahren? In 10 Jahren habe ich ein super tolles Grabungsprojekt und meine Habil in meiner Tasche, irgendwo im Orient. Und ich sehe mich in Syrien, weil Syrien bis dahin hoffentlich wieder Frieden hat und ich dann dort wieder hin kann.

ANNE-BIRTE BINDER ist 2005 für das Studium der Archäologie und Kulturgeschichte des Vorderen Orients, der Altorientalischen Philologie und der Orientalistik nach Frankfurt gekommen. Seit 2013 ist sie Doktorandin am Institut für Archäologische Wissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihr aktueller Forschungsschwerpunkt im Graduiertenkolleg „Wert und Äquivalent“ liegt im heutigen Syrien im Zeithorizont des 3. Jt. v. Chr. sowie dem Iran vom 3.-1. Jt. v. Chr. Thematisch umfasst ihre Arbeit Ikonografie sowie Handel und Wirtschaft im 3. Jt. v. Chr., die sie unter Berücksichtigung von textlichen Quellen anhand von Siegeln und Siegelbildern rekonstruieren möchte. Darüber hinaus beschäftigt sie sich mit den islamischen Perioden im gesamten Nahen und Mittleren Osten. Sie hat an Grabungs- und Surveyprojekten in Syrien, Kurdistan (irakisch) und Jordanien teilgenommen.

Tontafelabguss

Abguss einer originalen Tafel aus der Mitte des 2. Jt. v. Chr. aus Tell Chuera, Syrien. Auf der Tafel ist die Reiseroute für einen Boten notiert, der einen Auftrag in einer mehr als eine Tagesreise entfernten Stadt erfüllen soll.

© Institut für Archäologische Wissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt. Foto: Birgitta Schödel, Goethe-Universität Frankfurt. Übersetzung in: Jakob, Stefan 2009, Die Mittelassyrischen Texte aus Tell Chuera in Nordost-Syrien, 45

Röntgenbild einer ungeöffneten, gesiegelten Bulla

Auf der Aufnahme sind mehrere Token zu erkennen, die in der Kugel eingeschlossen sind und vermutlich als Warenbegleitschein dienten.
Aus: Amiet, Pierre 1986, L’Âge des Échanges inter-iranienes, 249, fig. 29

Gebrannter vs. ungebrannter Verschluss

Das Brennen eines Verschlusses nach dem Öffnen (oberes Beispiel) macht ihn deutlich haltbarer - im Vergleich zu einem ungebrannten (unteres Beispiel). Ungebrannte Verschlüsse bestehen nur aus luftgetrocknetem Lehm, der sich vor allem durch Feuchtigkeit auflösen kann. Warum bestimmte Verschlüsse gebrannt wurden, ist bisher noch unbekannt und wird in der aktuellen Forschung untersucht.

Vergleich von Token und den ersten Keilschriftzeichen

Durch die große Ähnlichkeit zwischen einigen Token und einigen der ältesten Keilschriftzeichen, nimmt man an, dass die Keilschrift durch das „Abzeichnen“ der Token entstanden ist.
Aus: Matthews, Roger 1998, l'Émergence de l'écriture au Proche-Orient. In: Talon, Philippe, Van Lerberghe, Karel (Hrsg.) En Syrie, aux origines des l'écriture, 13-19, fig. 1

Token (Repliken)

Repliken verschiedener Token wie sie in einer Bulla zusammen eingeschlossen gewesen sein könnten. Token wurden in Tonkugeln (Bullae) eingeschlossen und zusammen mit Waren verschickt. Ein Token steht für eine bestimmte Menge einer Ware. So kann anhand der Token nachvollzogen werden welche Waren in welcher Menge verschickt wurden und ob alles am Zielort angekommen ist.

Foto: Birgitta Schödel, Goethe-Universität Frankfurt

Uruk-zeitliche Tontafel mit „Übersetzung“

Eine der ältesten Verwaltungsurkunden aus dem 4. Jt. v. Chr. Die Bedeutung der Zeichen ist bekannt, welche Sprache aber geschrieben wurde lässt sich nicht mehr nachvollziehen.

© The Schøyen Collection MS 1717, The Schøyen Collection, Oslo and London (http://www.schoyencollection.com/24-smaller-collections/wine-beer/ms-1717-beer-inanna-uruk). Umzeichnung: Martina Miocevic

Antikes Rollsiegel mit modernen Abrollung

Mit einem Siegel kann jede formbare Oberfläche gesiegelt werden und dadurch vor unerlaubtem Zugriff geschützt werden. Das Rollsiegel hat gegenüber dem Stempelsiegel den Vorteil, dass eine größere Fläche auf einmal gesiegelt werden kann.
Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum VA2929

Indiana Jones der Moderne

Ganz so spannend und actiongeladen wie im Film ist das Leben eines Vorderasiatischen Archäologen nicht. Aber trotz Hitze, Dreck, Viehzeugs und einer Menge Arbeit, kommt der Spaß auf Ausgrabungen im Orient selten zu kurz. Dafür sorgen auch die vielfältigen Aufgaben, die ein Archäologe im Feld wahrnimmt. Man ist Manager, Fotograph, Supervisor, Putze, Graphiker und Mädchen für alles, und das manchmal alles gleichzeitig. Nichts für schwache Gemüter und Couch Potatos.

Schema eines Gefäßverschlusses aus Ton

So funktioniert ein Gefäßverschluss. Er verhindert nicht, dass jemand das Gefäß öffnen kann, aber niemand kommt unbemerkt an den Inhalt, denn der Verschluss muss zum Öffnen aufgebrochen werden. Um das Gefäß wieder zu verschließen braucht man das Originalsiegel.

© Institut für Archäologische Wissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt. Umzeichnung: Martina Miocevic

Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

Priene, Türkei, und Athen, Griechenland

Menschen | Tun | Dinge Wirtschaft und Verwaltung

Wie ‚modern‘
war die antike
Wirtschaft? —
Das Fallbeispiel
Priene

Die Debatte, wie ‚modern‘ bzw. wie ‚primitiv‘ die Wirtschaft der antiken Welt war, ist eine lange und wechselhafte. In ihren Grundzügen vertreten die Befürworter einer primitivistisch zu verstehenden antiken Wirtschaftsordnung die These, dass diese sich im Wesentlichen niemals über eine eng umgrenzte Haushaltsökonomie, für die der oikos (das griechische Wohnhaus bzw. der Haushalt als solcher) sinnbildlich steht, hinaus entwickelt hat. Dieser erstmals von Karl Bücher explizit formulierte Gedanke – basierend auf einer Analyse der antiken Quellen – traf bereits kurz nach seiner Publikation im ausgehenden 19. Jh. auf heftige Gegenreaktionen, unter anderem durch Eduard Meyer und Karl Julius Beloch. Ihr Gegenentwurf, für den sie ihrerseits vor allem historische Quellen als Beleg anführen, sieht in der antiken Ökonomie reichlich Ansätze einer quasikapitalistischen Marktordnung, die in vielen Fällen mit der des vorindustriellen Europas vergleichbar ist. In den nachfolgenden Jahrzehnten wurde die Diskussion zunehmend durch die Analyse archäologischer Fundkontexte bereichert. Diese Auswertungen tendierten zumeist dazu, ausgehend von den Untersuchungen der gut erforschten urbanen Zentren, die Antike als ein eng vernetztes System zu beschreiben, in dem hochkomplexe wirtschaftliche Abläufe allenthalben materiell nachweisbar sind. Auf der anderen Seite wurden Althistoriker wie Moses I. Finley nicht müde zu betonen, dass bei allem kulturellem Fortschritt und trotz des regen Handels in der Zeitspanne von ca. 1000 v. Chr. bis 500 n. Chr. nur wenige wirklich einschneidende technische und ökonomische Fortschritte zu erkennen sind. Als einer der wichtigsten Faktoren für diesen Fortschrittsmangel galt für Finley, dass das System zu allen Zeiten hauptsächlich auf räumlich eng begrenzten, lokalen Wirtschaftsräumen basierte, für die vor allem Sklavenarbeit eine wichtige Rolle spielte. Neuere Ansätze versuchen hingegen zu betonen, dass der sogenannte ‚Primitivisten-Modernisten-Streit‘ vor allem aus den unterschiedlichen methodischen Ansätzen der beiden Modelle resultierte und deshalb innerhalb ihrer Argumentation beide Seiten beanspruchen können, Recht zu haben. So versuchte bereits Max Weber eine Brücke zwischen beiden zu schlagen, indem er Büchers geschlossene Oikos-Wirtschaft zugunsten eines von ihm definierten Idealtyps des griechischen Haushalts aufweichte. Ein wesentliches Problem dieser Kontroverse scheint zu sein, dass es den Teilnehmern beim Studium der Quellen nicht immer um die nüchterne Wahrheitsfindung ging, sondern vielmehr darum, die Quellen in das ideologisch und politisch bereits vorgeprägte Bild der antiken Wirtschaft einzuordnen.
Es wäre vermessen zu glauben, dass diese langanhaltende, mitunter leidenschaftlich geführte Diskussion an einem Ort wie Priene entschieden werden könne, insbesondere wenn sie im Kern auf einem Missverständnis bei der Auslegung der Quellen basiert. Dennoch scheint es meiner Meinung nach angebracht, dass Materialstudien stets versuchen Position zu diesen beiden Thesen zu beziehen. Die von mir untersuchte Gefäßkeramik, die ungefähr aus den ersten 100 Jahren der Stadtgeschichte (ca. 350 – 250 v. Chr.) stammt, ermöglicht hierbei verschiedene Zugänge zum Verständnis der wirtschaftlichen Verhältnisse in der ionischen Kleinstadt Priene. Zuvor muss jedoch betont werden, wie limitiert das Bild alleine aufgrund des archäologischen Befundes ist. So nehmen keramische Gefäße als Handelsgut um ihrer selbst willen nur einen kleinen Anteil unter den Handelsgütern ein, wie die Analyse von Schiffswracks zeigt. Häufiger sind Amphoren, die u. a. mit Wein oder Öl gefüllt  lediglich als Transportcontainer dienten. Von diesen erhielten sich zwar auch einige in den prienischen Fundkontexten, ihre Aufarbeitung steht für Priene jedoch noch aus. Weiteres, nicht-keramisches Handelsgut – organisch (etwa Getreide oder Textilien) wie auch nicht-organisch (Metall oder Glas in Rohform bzw. als Endprodukt) – kann aufgrund der Erhaltungsbedingungen kaum berücksichtigt werden, würde das Bild aber natürlich entscheidend bereichern. Historische Quellen und epigraphische Belege für Handelsaktivitäten liegen für Priene ebenfalls nur begrenzt vor. Unter anderem wissen wir inschriftlich von Meerwassersalinen, die im Umland von Priene betrieben wurden. Von Plinius erfahren wir, dass Priene neben anderen Städten Ioniens für die Produktion eines Abführmittels namens Scammonium bekannt gewesen sei. Ionien insgesamt war zudem in der Antike für seine Woll- und Textilproduktion berühmt; auch hieran mag Priene Anteil genommen haben. Zum Warenimport nach Priene äußern sich diese Quellen jedoch nicht und auch die Akteure, also Händler und Konsumenten, sind uns namentlich nicht bekannt. Ein Dekret aus dem 3. Jh. v. Chr. (IPr 81) enthält jedoch Hinweise auf das Amt der sitophylakes, der Verwalter der städtischen Getreidespeicher; die genannten Personen waren anscheinend neben dem An- und Verkauf von Getreide auch für andere, nicht spezifizierte Waren zuständig, deren Einfuhr zumindest teilweise staatlich kontrolliert worden sein dürfte.
Keramische Gefäße besitzen den entscheidenden Vorteil, dass sie – nachdem sie zu Bruch gegangen waren oder aus anderen Gründen ausrangiert worden waren – nicht recycelt werden konnten und dass der einmal gebrannte Ton quasi unvergänglich ist. Der hierdurch anfallende Keramik-Müll wurde jedoch anscheinend als günstiges Planiermaterial betrachtet, wodurch wir in der Lage sind, bestimmte Zeithorizonte der Stadtentwicklung mit ausgewählten Schuttverfüllungen verbinden zu können. Das Fundmaterial gliedert sich zum einen in unterschiedliche Warengruppen, also ‚Feinkeramik mit Überzug‘, ‚Transportamphoren‘ oder ‚Kochkeramik‘. Innerhalb dieser Gruppen lässt sich das Fundmaterial nach einer Serie von exemplarisch durchgeführten makroskopischen, petrographischen und chemischen Analysen in verschiedene Fabrikatgruppen unterteilen. Diese stehen jeweils für eine Kombination unterschiedlicher Toneigenschaften und lassen sich oftmals ganz bestimmten Produktionsorten oder sogar Werkstattgruppen zuweisen. Für die meisten in Priene repräsentierten Warengruppen kann man hierdurch recht verlässlich den Anteil lokal produzierter sowie aus unterschiedlichen Regionen importierter Gefäße im untersuchten Zeitraum erschließen. Das Ergebnis überrascht, stammen doch regelmäßig 15 bis 25% der ‚Feinkeramik mit Überzug‘ aus dem mehr als 300 km entfernten Athen und weitere ca. 5 bis 10% aus teils nicht genauer bestimmbaren Produktionsorten Kleinasiens. Sogar noch höher ist der Anteil von Importen unter der ‚Kochkeramik‘, bei der durchgängig etwa die Hälfte der inventarisierten Gefäße nicht lokal produziert zu sein scheint. Andere, hochspezialisierte Gefäße, wie etwa Reibschüsseln (sog. Mortarien), sind sogar durchweg importiert worden; eine konkurrierende lokale Produktion scheint sich nicht einmal versuchsweise etabliert zu haben. Dem gegenüber steht die große Gruppe der ‚tongrundigen Keramik‘, die sich v. a. aus einfachen Schüsseln, Kannen, Krügen und dergleichen zusammensetzt; diese scheinen weitgehend lokal produziert worden zu sein. Dass die Größe und damit auch das Volumen der Gefäße einen entscheidenden Einfluss auf das Spektrum der verhandelten Gefäße gehabt haben mag, zeichnet sich besonders bei der ‚Feinkeramik mit Überzug‘ ab. Dort ist der Anteil an Importen unter den kleinen Gefäßformen (also Trinkgefäßen und Essgeschirr) deutlich höher als unter den großformatigen Misch- und Schankgefäße. Besonders interessant wird es, wenn man einen genauen Blick auf die importierten Gefäße wirft. Hier zeigt sich, dass die Käufer in aller Regel nicht blind nach Kriterien wie Exotik oder Luxus ausgewählt zu haben scheinen. So besteht ein großer Teil der aus Athen importierten Trinkgefäße im 4. Jh. aus sogenannten Bolsalen, gedrungenen, zweihenkeligen Trinkgefäßen. In Athen ist die Form in dieser Zeit eher eine Randerscheinung. Hätte ein Zwischenhändler lediglich einen Querschnitt der in Athen veräußerten Trinkgefäße erworben, so wären darunter nur wenige Bolsale gewesen; deutlich bedeutender waren in dieser Zeit nämlich der Skyphos oder der Kantharos. Für diese schien es in Priene jedoch kaum Bedarf gegeben zu haben; das zeigt sich auch daran, dass vor allem der Bolsal als Form lokal produziert wurde. Vergleichbares gilt für in Athen produzierte Teller, die in vielen Bereichen des Mittelmeers sehr beliebt waren. Der Absatz solcher Teller in Priene war jedoch marginal, bevorzugt wurden anscheinend flache Napf-Formen, die vermutlich besser zu den lokalen Essgewohnheiten passten. Auf solche regionalen Bedürfnisse scheinen die Zwischenhändler beim Einkauf in Athen demnach Rücksicht genommen zu haben. Darüber hinaus deutet sich in meiner Studie an, dass Kundenwünsche wohl von den Zwischenhändlern auch an die Produzenten der Keramik weitergegeben wurden. So kennen wir Werkstätten in Athen, die sich bei der Wahl der Gefäßformen und des Dekors gezielt an den Absatzmärkten orientierten. In Priene gibt es Hinweise darauf, dass einige der importierten attischen Gefäße auf besondere Weise im Brennofen gefeuert worden sind, so dass ihre Oberfläche nicht, wie üblich, schwarz, sondern rot wurde. Dies käme dem prienischen Geschmack durchaus entgegen, da die im 4. Jh. v. Chr. lokal produzierte Keramik mit Überzug fast ausschließlich rot gebrannt wurde.
Solche engen Verflechtungen zwischen Produzenten, Zwischenhändlern und Konsumenten wirken in unseren Augen modern und die scheinbar gut etablierten Handelsnetze vermitteln den Eindruck eines lebendigen Warenverkehrs, an dem weite Teile der Bevölkerung teilgenommen zu haben scheinen. Bei genauer Betrachtung handelt es sich jedoch um einen Markt, der wohl im Wesentlichen jenseits der Grundprodukte des alltäglichen Lebens funktionierte. So dürfte der auf Schiffen verhandelte Wein bzw. das Öl oftmals eher ein Luxusprodukt gewesen sein, das mit großer Sicherheit die Grundversorgung mit lokal produziertem Wein und Öl nur ergänzt haben wird. Auch die restlichen Grundnahrungsmittel, wie Fleisch, Getreide, Obst und Gemüse, dürften weitgehend aus dem Umland der Stadt stammen. Und was die Keramik anbelangt, so zeigt sich, dass in Krisenzeiten, wie etwa während der Diadochenkriege in den Jahrzehnten um 300 v. Chr., etablierte Handelsnetze schnell abbrechen konnten und die lokale Produktion in solchen Fällen ganz selbstverständlich für die Grundversorgung mit keramischen Geräten aufkommen konnte. Die kleine Polis Priene war somit – wie dies von antiken Philosophen in ihren ökonomischen Texten auch stets betont wird – bei allem Austausch und Handel mit der mediterranen Welt hinsichtlich ihrer Grundversorgung sicherlich weitgehend autark. Insgesamt zeigt die Kleinstadt aber auch den ‚modernistischen‘ Aspekt der antiken Wirtschaft: Sie hatte Anteil an einem modern anmutenden, von freien Akteuren betriebenen Mittelmeerhandel, die im Bedarfsfall auch auf die Wünsche und Bedürfnisse einzelner Kundenkreise einzugehen vermochten.

3D-Modell eines Napfes

Rekonstruktion
Modell: Lars Heinze
Menschen | Tun | Dinge Wirtschaft und Verwaltung

Interview Lars Heinze

Stell dir vor du erklärst einem Laien vor Ort dein Promotionsthema.

Was sagst du?

Ich habe mich im Rahmen meiner Doktorarbeit mit der Fundkeramik der in der Türkei gelegenen Stadt Priene beschäftigt und zwar in dem Zeitraum vom vierten zum dritten Jahrhundert v. Chr. Das ist der Zeitraum der für uns Archäologen, aber auch für Historiker spannend ist, in dem nämlich Alexander der Große von Griechenland aufbrechend das Perserreich in einem großangelegten Feldzug unterworfen hat. Also ein Zeitraum, in dem wir auch vom kulturhistorischen her mit großen Umbrüchen rechnen würden, die auch von den Historikern immer so postuliert werden. Das Problem ist, dass wir eigentlich von der materiellen Kultur dieser Zeit ganz wenig kennen. Das gilt unter anderem auch für Kleinasien, also die heutige Türkei und insbesondere für die Stadt Priene die genau auf der Route dieses Feldzuges lag, etwa auf der Höhe des modernen Izmirs,  und von Alexander dem Großen im Rahmen des Feldzuges befreit worden ist. Priene war dann letztendlich ein Teil des großen Alexanderreiches und der nachfolgenden Diadochenreiche. Das heißt wir haben eine Stadtsituation, die wenige Jahrzehnte vorher gegründet wurde, ungefähr in der Mitte des 4. Jahrhunderts und dann einige Jahrzehnte später befreit wurde, nachdem sie vorher eigentlich dem Perserreich zugehörig war. Und innerhalb meines Materials, der Keramik, sehen wir eben indirekt diesen historischen Umbruch und die daraus resultierenden sozialen und kulturgeschichtlichen Änderungen, die damit einher gingen. All dies kann man eben ganz gut an diesem eigentlich sehr nüchternen keramischen Fundmaterial ablesen, was jedoch in dieser Art in der Region, in der ich jetzt arbeite, bislang noch nicht geschehen ist.

Wie gehst du dabei vor?

Zunächst wird die ganze Keramik vor Ort gezeichnet,  fotografiert, beschrieben, in eine Datenbank eingepflegt.  In Frankfurt, nachdem wir zurück sind von der Ausgrabung, wird dieser Digitalisierungsprozess fortgesetzt. In einzelnen Jahren hatten wir das Glück von der Grabung selbst Keramikproben mitnehmen zu können, die dann in Frankfurt auch noch zusätzlich archäometrisch, also mit naturwissenschaftliche Methoden, analysiert werden konnten.

Gab es Momente der Überraschung während deiner Forschung?

Negativ ist vor allem gewesen, dass es so lange gedauert hat und insgesamt ein sehr mühsamer Weg war. Aber ab einem gewissen Punkt war mir klar, worauf die Sache hinaus lief und ab diesem Zeitpunkt, das war ca. nach drei Jahren, der Moment erreicht war, an dem ich wusste, dass  ein handfestes Ergebnis dabei herauskommt. Seitdem war es eigentlich ein großes Vergnügen, gerade wenn es darum ging das Material auswärtig zu präsentieren, während ich in den ersten ein, zwei Jahren oftmals noch unsicher war: geht die Sache überhaupt auf? Habe ich genug Material beisammen? Durch die sehr umfangreichen Arbeiten, die heutzutage in meinem Bereich, also der Keramikforschung, herausgegeben werden, ist der Druck den man sich selbst aufbaut  enorm. Am Ende war ich dann wirklich sehr zufrieden mit den Ergebnissen die ich hatte und jetzt, nachdem ich abgeschlossen hab, sehe ich auch, dass die Arbeit eine ganz runde Sache geworden ist. Es gab auch sehr schöne Einzelerlebnisse. Sehr schön ist natürlich, dass man durch den Besuch von Konferenzen viel herum kommt und dabei reichlich spannende Menschen kennenlernt. In meinem persönlichen Fall hatte ich das Glück bei einer Konferenz in Izmir meine jetzige Verlobte kennen zu lernen. Es ist ja manchmal auch gar nicht so leicht jemanden zu finden, der diese sehr spezialisierten Forschungen überhaupt nachvollziehen und dafür Verständnis entwickeln kann.

Welchen Einfluss auf die heutige Forschung erhoffst du dir von deinen Forschungsergebnissen?

Das Schöne ist, dass wenn man in diesem kleinen Kreis der Keramikforschung arbeitet und eigentlich fast alle Leute persönlich kennt, die von meiner Arbeit künftig profitieren werden. Das heißt, ich bewege mich jetzt in den letzten Jahren schon auf Konferenzen, bei denen ich immer wieder merke: das sind die Leute für die ich das eigentlich mache und von denen ich dann auch immer ein wichtiges Feedback bekomme, die mir sagen: mach das jetzt schnell zu Ende, das was du machst ist wirklich wichtig für uns. Das ist natürlich ein sehr kleiner Kreis von Fachkollegen,  selbst innerhalb der klassischen Archäologie. Aber wenn man weiß, dass man es für diesen Kreis von zwanzig, dreißig, vierzig Personen macht, denen durch meine Studien unmittelbar bei ihrer eigenen Forschung geholfen wird, ist das wirklich ein sehr schönes Gefühl. Das sind natürlich nicht die spektakulären Funde, die jetzt die Archäologie in Zukunft auf den Kopf stellen werden, aber dafür machen wir das ja schon aus wissenschaftlichen Gründen nicht.

Wo siehst du dich in 10 Jahren?

Ich sehe mich sehr wahrscheinlich auf einer Projektstelle. Das sind meistens kleinere Projektgruppen, die sich bestimmten Fragestellungen zugewandt haben. Ich würde das auch bevorzugen, da ich nicht unbedingt in die Lehre gehen wollte und letztendlich das was ich mache mit dieser Spezialisierung im normalen Universitätsalltag und auch in den Museen selbst keine große Rolle spielt. Es würde mir also am meisten Freude bereiten in solchen kleinen, hochmotivieren Projektgruppen arbeiten zu können, wobei ich auch weiß, dass das nicht immer möglich sein wird. Ich bin da völlig flexibel. Es sollte an einem Ort sein wo ich weiß, dass ich mit Leuten zusammenarbeite, die sich gegenseitig respektieren und die gemeinsam auf ein größeres Ziel hin arbeiten wollen. Und wenn das Ganze zeitlich und finanziell mit einer kleinen Familie zu verbinden wäre, wäre das natürlich ein Traum.

LARS HEINZE promoviert im Fach Klassische Archäologie an der Goethe-Universität. Er beteiligt sich seit 2000 an den Ausgrabungskampagnen in dem in der Türkei gelegenen Priene und war darüber hinaus bereits in Albanien und Italien archäologisch tätig. Im Mittelpunkt seiner Forschung steht die Interpretation von Gefäßkeramik aus Ausgrabungskontexten, die mit herkömmlichen Methoden dokumentiert sowie zusätzlich mit archäometrischen Verfahren analysiert wird. Außerdem beschäftigte er sich mit hellenistischen Tempelbauten in der Türkei sowie mit den archäologischen Zeugnissen der Textilindustrie von Priene. Er ist assoziiertes Mitglied des Graduiertenkollegs „Wert und Äquivalent“.

Zwei unterschiedliche Typen von Transportamphoren des 4. Jhs. v. Chr.

Die Umzeichnungen zeigen beispielhaft zwei geläufige Typen von Transportamphoren, wie sie im Priene des 4. Jhs. v. Chr. Geläufig waren. Amphoren dieser Art dienten in der Antike als in der Regel einmalig verwendetes Verpackungsmaterial, mithilfe dessen vornehmlich flüssige Güter (v. a. Wein oder Olivenöl) transportiert wurden.

Weinamphore von der Insel Chios (links) und unspezifische Transportamphore aus dem Bereich der südöstlichen Ägäis (rechts).  Umzeichnung: Lars Heinze

Übersicht über verschiedene nach Priene importierte Gefäßtypen

Der Bedarf an Trink- und Essgefäßen, aber auch der von Küchenutensilien, wurde in Priene neben einer gewissen Grundversorgung auch durch den Import aus zum Teil weit entfernten Ortschaften gedeckt. Im Falle des feinen Tischservices kamen diese v. a. aus Athen, daneben aber auch aus anderen Werkstätten Kleinasiens. Bei der Küchenkeramik dominieren Produktionsorte, die bislang noch nicht konkret zugewiesen werden konnten.

Drei typische aus Athen importierte Trinkgefäße (a. Schalenskyphos, b. Kantharos, c. Bolsal) sowie ein tiefer Trinkhumpen (d. Skyphos) aus bislang unbekannter kleinasiatischer Produktion.  Umzeichnungen: Lars Heinze

Rekonstruierte Ansicht der antiken Stadt Priene

Diese zeichnerische Rekonstruktion aus dem frühen 20. Jh. zeigt die Stadt Priene nach den Ergebnissen der Ausgrabungen der Jahre 1895 bis 1898 unter Theodor Wiegand und Hans Schrader. Seit der Wiederaufnahme der archäologischer Feldforschungen im Jahre 1998 unter der Leitung von Wulf Raeck konnte dieses Bild teilweise beträchtlich modifiziert werden.
Zeichnerische Rekonstruktion von A. Zippelius, in Aquarell übertragen von E. Wolfsfeld

Eingeritztes Zeichen auf dem Boden eines attischen Importgefäßes

Regelmäßig finden sich nach dem Brand eingeritzte Zeichen auf den Unterseiten verhandelter Gefäße. In diesen Fall fand sich die Ligatur, also die Verschmelzung zweier Buchstaben, von „A“ und „I“ auf dem Boden eines in Athen produzierten und in Priene gefundenen Essgefäßes. Zeichen dieser Art werden für gewöhnlich als Händlermarkierungen (engl. trading marks) gedeutet, mit denen Zwischenhändler die von ihnen vertriebenen Waren kennzeichnen.

Unterseite des Napfes PR 01 K193, gefunden in einer Verfüllung auf der Agora von Priene.  Foto: Birgitta Schödel, Goethe-Universität Frankfurt

Menschen | Tun | Dinge - Weltkarte

Tamale, Ghana

Menschen | Tun | Dinge Wirtschaft und Verwaltung

Market
Money —
Die sichtbare
Hand

Unser Geld liegt auf einer Bank, wir lassen uns beraten, schließen Verträge ab und glauben, unser Geld sei gut und sicher aufgehoben. Ja vielleicht haben wir sogar einen so guten Zinssatz bekommen, dass wir etwas verdienen mit der getätigten Anlage. Dann schauen wir die Nachrichten, hören von Börsencrashs, dem Fall und Aufstieg von Währungen, dem Wert von Firmen, hören Jahresbilanzen des Staatshaushaltes. In der Schule lernt man, wie unsere Wirtschaft funktioniert – zumindest die Realwirtschaft betreffend. Firmen, Unternehmer, Mitarbeiter, Beamte – sie alle erwirtschaften Geld, zahlen Steuern. Nachfrage, Angebot, Zahlung, Bilanz. Klingt logisch. Logisch klingt vielleicht auch noch, dass Unternehmen an die Börse gehen. Weniger verständlich wird das ganze System jedoch, wenn wir auf einmal hören, dass man Geld mit Geld kauft. Erkundigt man sich weiter, stellt man fest: Fremdes Geld wird von unserem Geld auf der Bank gekauft. Man erfährt weiterhin, dass unser vermeintliches Kapital gar nicht unser Kapital ist, sondern das der Bank, die sich nicht nur an den uns betreffenden Zinssätzen erfreut, sondern auch an den Leihgebühren, die sie vom Staat erhält, weil dieser sich ständig Geld leihen muss. Unser Geld ist also zwar noch unser Geld auf der Bank, aber damit handeln tut jemand anders. Gehört es uns dann noch? – Vermutlich werden viele Menschen in Zypern sagen, ihr Geld wurde ihnen geraubt. Aber in Form eines Raubzuges mit rechtlicher Absicherung. Und was ist dieses Geld eigentlich? Es ist kein fassbares Objekt mehr, sondern eine virtuelle Zahl, am deutlichsten repräsentiert durch Kreditkarten. Eigentlich ist es gar nicht da. Und doch regiert es die Welt. Und woher hat das Geld seinen Wert? Es hat keinen Materialwert und kein fassbares Äquivalent wie z.B. den Goldstandard. Das Geld ist in gewisser Weise sein eigener Wert. Er besteht aus dem Vertrauen, das wir in den Staat und damit in die Währung setzen. Und die recht willkürliche Regulierung des finanziellen Kreislaufs (z.B. Hervorrufen einer Inflation) ist auch im Paket enthalten. Es ist eine hübsche kleine Blase, die dann und wann auch einmal platzt. Nämlich dann, wenn es zu einer Deflation kommt. Dann wird ‚unser‘ Geld auf einmal zu teuer. Das Geld ist entsprechend nicht mehr nur Zahlungsmittel, beziehungsweise ein Tauschmedium, sondern ist selbst zu einer Ware geworden. Dieser kleine Abriss ist nur ein winziger Teil der Wahrheit. Denn wir alle kennen das folgende Gefühl: Wenn man sich nicht intensiv damit beschäftigt, ist kaum zu verstehen, was mit unserem Geld geschieht und somit bleibt auch verschleiert, wie unsere Wirtschaft überhaupt funktioniert. Selbst Börsenmakler geben zu: Manchmal weiß man nicht mehr, was passiert. Der Fluss des Geldes ist zu einem Selbstläufer geworden. Adam Smiths Begriff ‚die unsichtbare Hand‘ bekommt dadurch eine erweiterte Bedeutung.
Die unsichtbare Hand gibt es auch in Ghana. Es gibt große Unternehmen und eine Börse. Der wirtschaftliche Rahmen ist unserem sehr ähnlich – man könnte sagen, Ghana hat sich in das globale Wirtschaftssystem eingeklinkt. Man kann in Ghana eine grobe Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Wirtschaftsbereichen vornehmen: Dem formellen Bereich und dem informellen Bereich, wobei deutlich gemacht werden muss, dass beide keine abgeschlossenen Systeme sind, sondern sie ineinander verwoben sind. Formalität bedeutet hier, dass die Wirtschaft vom Staat und dessen Gesetzen gesteuert wird. Dazu gehören Unternehmen, die Steuern zahlen und ein offizielles Gewerbe angemeldet haben, Banken und der öffentliche Sektor. Kurz: Alles, was gut mit unserem Wirtschaftssystem vergleichbar ist.
Den informellen Bereich zu definieren, ist weitaus schwieriger: Es handelt sich dabei um selbstständige Unternehmer und Landwirte, die ihr Gewerbe nicht anmelden und ein Stück weit außerhalb der staatlichen Formalien interagieren. Die Zentren dieses informellen Bereiches sind Märkte, auf denen sich verschiedene Händler und Güter tummeln und ein eigenes riesiges soziales Netzwerk bilden. In Ghana sind 80% der Bevölkerung im informellen Bereich tätig. Der Central Market in Tamale, der Distrikthauptstadt der Northern Region, ist eine Lebenswelt: Er ist das Herzstück der Stadt, der Großteil des sozialen, politischen, wirtschaftlichen, verwandtschaftlichen und auch privaten Lebens findet dort statt. Er ist kein Arbeitsplatz, sondern ein zutiefst verwobener Ort, an welchem Leben gelebt werden; ein Ort, an welchem Biografien von Menschen und Dingen beginnen, enden und beträchtlich beeinflusst werden. Obwohl der Markt ein relativ autonomes wirtschaftliches System ist, ist er in die Region und den Staat eingebettet. Für die Einen ist er ein Durchgangsort, für die Anderen der beständigste Ort ihres Lebens. Während wirtschaftlicher oder politischer Krisen ist er einerseits der Sündenbock, andererseits jener Ort, der das Überleben sichert. Er repräsentiert zum einen den industriestaatlichen Einfluss, zum anderen ist er nach wie vor stark von den Strukturen der Dagomba und des Islams geprägt. Er gilt als stabiles, immerwährendes Gebilde und befindet sich dort in permanentem Wandel. Begreift man den Markt als Lebenswelt, wird klar, dass man das Wirtschaften dort nur aus der Innenperspektive, also durch Intersubjektivität, begreifen kann und dass man es nur im Kontext der anderen Einflüsse (z.B. Religion, Verwandtschaft und Politik) auf dem Markt verstehen Kann. Es ist ein Geflecht, welches zu einem persönlicheren Tausch führt, als es in unserem formellen Wirtschaftssystem der Fall ist. Die Märkte sind durch ihre Akteure eine sichtbare Hand der Wirtschaft. Im Handel auf dem Markt geht es in erster Linie nicht darum, großen Profit zu machen, sondern den Handel am Laufen zu halten. Ein Händler hat jeden Tag ein kleines Einkommen, welches dafür sorgt, dass er seine Familie ernähren kann. An guten Tagen erzielt er einen Profit von ein bis zwei Prozent. Manchmal hat er auch gar keinen Profit, aber eben doch genug Geld, um über den Tag zu kommen. Es geht zunächst um den Geldfluss, nicht um Geldanhäufung. Ist dieser Fluss einmal gegeben, geht man vielleicht Risiken ein, um den Gewinn zu maximieren. Im höchsten Fall liegt der Profit dann bei zehn bis zwanzig Prozent – das sind Zahlen, die fast nur durch Plagiate erworben werden. Man darf sich hier dennoch nicht vorstellen, dass es sich um eine ‚Heile Welt‘-Wirtschaft handelt, in der niemand auf den eigenen Gewinn abzielt. Die Händler sind kalkulierende Ökonomen, jedoch mit wenigen Mitteln und Absicherungen, dafür aber mit großen Familien. Die Geschichte Ghanas zeigt überdeutlich, dass Händler des informellen Bereiches oftmals von der Regierung als Ursache für den schlechten Staatshaushalt genannt wurden und werden. Sie repräsentieren ‚das alte Ghana‘, die Tradition, den Rückstand. Offizielle Unternehmen, Banken, neue öffentliche Gebäude und Shopping Malls sind die Zukunft, der Weg in die Moderne. Hinter diesem Dualismus steckt eine Ideologie, die sich in den gegenseitigen Wertzuschreibungen der beiden Bereiche manifestiert. Das spiegelt sich auch im Umgang mit Geld wieder: Für die Händler ist Geld ein Tauschobjekt, das jeden Tag verfügbar sein muss. Diese Tatsache wird durch das Äußere des Market Money deutlich. Market Money ist der Cedi, die gängige Währung Ghanas, aber in einem schlechten materiellen Zustand. Die Scheine sind schmutzig, zerknüllt und gerissen. Man kann sie in formellen Geschäften nicht als Zahlungsmittel benutzen, obwohl sie die gleiche Kaufkraft haben wie saubere Cedi Scheine. Allein durch ihr Äußeres wird ihnen ein geringerer Wert zugesprochen. Wie der informelle Handel repräsentieren auch sie das alte, nicht aber das moderne Ghana. Diese Zuschreibung sorgt dafür, dass zwar immer wieder sauberes Geld in den Marktkreislauf einfließt, aber auch, dass Market Money weitestgehend in diesem Kreislauf bleibt. Vor allem deshalb, weil die Händler dem Staat und erst recht den Banken nicht vertrauen. Kaum ein Händler bringt sein Geld zu einer Bank, weil es a) kaum eine Vertrauensbasis gibt, b) die Händler ihr weniges Geld jeden Tag benutzen müssen und es c) für sie kaum eine Notwendigkeit gibt, ein Konto zu besitzen. Der informelle Bereich braucht kein ‚plastic money‘, alles wird mit Bargeld erledigt. Selbst Schulgebühren können bar bezahlt werden. Daraus folgt, dass das Geld als Objekt immer in Bewegung und aktiver Verwendung ist. Market Money bleibt ein Ding, das materiell greifbar ist und durch die Hände von Händlern, nicht von Computern gesteuert wird. Außerdem können durch dieses relativ autonome Wirtschaften Preise innerhalb eines sozialen Netzwerkes ein Stück weit angepasst werden, sodass der Markt auch während wirtschaftlicher Krisen weiter florieren kann. Solche Anpassungen entstehen durch Absprachen unter den verschiedenen Händlern und Landwirten. Aus dieser Eigenständigkeit resultiert außerdem eine Stütze für die Nationalökonomie: Market Money zeichnet sich nicht nur durch sein Äußeres aus, sondern vor allem auch dadurch, dass es den realwirtschaftlichen Sektor praktisch nicht verlässt und entsprechend nicht in den Finanzsektor fließt. Das von 80% der Gesellschaft erwirtschaftete Geld wird also nur zu kleinen Teilen zur unsichtbaren Hand der Finanzwelt. Es bleibt im Fluss, was zur Folge hat, dass es bei einer Deflation trotz allen Umständen nicht zu mangelnder Liquidität kommen kann, weil der informelle Bereich sich durch interne Preisregulationen und die juristische wie finanzielle Autonomie vom Staat ein Stück weit emanzipiert.
Informelles Wirtschaften erreicht nur selten hohe Profite und sicherlich ist es so, dass die meisten Händler wohl wechseln würden, wenn sie könnten, weil sie so ein regelmäßiges Einkommen und andere Absicherungen hätten. Aber dank dieses Systems gibt es in Ghana trotz wirtschaftlicher Probleme keinen völligen ökonomischen Zusammenbruch. Die oft verfluchten Händler und Landwirte tragen also dazu bei, dass eine gewisse ökonomische Kontinuität und Stabilität herrscht. Und zwar durch etwas, das auf den ersten Blick chaotisch und eher instabil wirkt. Im Vergleich zur globalen Wirtschaft und dem dazugehörigen Finanzsystem ist das Markthandeln in Ghana sichtbar, kontrollierbar und erfahrbar. Es ist dabei nicht eine sichtbare Hand, sondern es sind viele sichtbare Hände, die ihr Market Money Tag für Tag zählen und verwenden.

Zerknüllter Cedi-Schein – Market Money

So zerknüllt und kaputt ein Schein auch sein mag, auf Ghanas Märkten wird er akzeptiert und für die Zahlung nicht provisorisch geglättet. Würde man versuchen mit diesem Schein etwas in einem Supermarkt oder einem anderen „formellen“ Geschäft zu kaufen, würde er abgelehnt werden, weil ihm ein geringerer Wert zugesprochen wird, obwohl er natürlich die gleiche Kaufkraft besitzt, wie ein glatter, sauberer Schein.

 

3D-Scan und Modell: Nico Serba, Frankfurt University of Applied Sciences

Die Händlerin Shemima Karenu, Tamale Central Market, 2014

Shemima ist 26 Jahre alt und verkauft verschiedene Lebensmittel und bunte Plastiktüten. Sie hat eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht, findet aber keinen Arbeitsplatz. Deshalb arbeitet sie nun auf dem Markt im Laden ihrer Tante.
Foto: Geraldine Schmitz

Die Händlerin Amina Danque, Tamale Central Market, 2014

Amina ist eine petty trader: Eine mobile Kleinhändlerin, die keinen eigenen Laden besitzt. Sie verkauft Tomaten und Zwiebeln aus eigenem Anbau.
Foto: Geraldine Schmitz

Die Händlerin Aisha Mensah und Passanten im Tamale Central Market, 2014

Foto: Geraldine Schmitz

Feldnotizen von 2013 aus Tamale

"Hä"?

Jeder Ethnologe kennt folgendes Gefühl: Überforderung im Feld, Chaos im Kopf, zu viele Sprachen auf der Zunge, und all das spiegelt sich in den Feldnotizen wieder.

 

Foto: Geraldine Schmitz 2015

Blick auf die First Lane, Tamale Central Market, 2014

Foto: Geraldine Schmitz

Ein normaler 2 GHC Schein im Vergleich zu Market Money

Numismatik für Ethnologen: Das Vertrauen in die Regierungsorgane Ghanas nutzt sich ab wie Geldscheine. Durch den Umgang der Händler mit Geld verblasst die Notwendigkeit staatlicher Instanzen.

Foto: Birgitta Schödel, Goethe-Universität Frankfurt

Blick über die First Lane des Tamale Central Market, 2014

Die First Lane ist eine der größten Gassen des Marktes und beherbergt ca. 200 Läden. Im Hintergrund sieht man die Central Mosque, die größte Moschee Ghanas.
Foto: Geraldine Schmitz

Hajia Habiba, Hajia Adamu, Hajia Memunatu (v.l.n.r.), Tamale Central Market, 2014

Hajias sind Frauen, die nach Mekka gepilgert sind und genießen in der Gesellschaft ein sehr hohes Ansehen. Außerdem sind sie die einflussreichsten Frauen auf dem Markt. Habiba, Adamu und Memunatu sind im Markt aufgewachsen und die besten Lehrerinnen für eine Marktethnologin, die man sich nur vorstellen kann.
Foto: Geraldine Schmitz

Marizok und Umar Mumin im Laden ihrer Mutter, Tamale Central Market, 2014

Marizok und Umar sind jeden Tag mit ihrer Mutter im Markt, für sie ist der Markt ihr zweites Zuhause und werden nicht nur von ihren Eltern, sondern auch von den anderen Händlern groß gezogen. Sie verbringen mehr Zeit ihrer Kindheit im Markt als an irgendeinem anderen Ort.
Foto: Geraldine Schmitz

Film Tamale

Ein Film von Daniel Hoffmann und Geraldine Schmitz über die Marktfrauen in Nordghana. Wie wurden sie zu Marktfrauen? Wie handeln sie, um ihre Familien zu ernähren? Wie gehen sie mit ihrem Geld um? Kurz: Ein Einblick in den Alltag ghanaischer Märkte.
Film: Daniel Hoffmann und Geraldine Schmitz
Menschen | Tun | Dinge Wirtschaft und Verwaltung

Interview Geraldine Schmitz

Stell dir vor, du erklärst einem Laien vor Ort dein Promotionsthema.

Was sagst Du?

Naja, der Witz der Ethnologie ist ja, dass ich der Laie vor Ort bin und die Menschen dort die Experten. Ich komme da nicht als „Wissende“, sondern als „Fragende“ an. Ich habe in Ghana festgestellt, dass die Leute sich für meine Forschung eigentlich herzlich wenig interessieren, weil es für sie so banal ist. Das ist auch kein Wunder: Käme jemand zu uns ins Büro und würde es fürchterlich spannend finden, wie wir z.B. unsere Bücher sortieren, wann wir essen gehen und wie und für was wir unser Geld ausgeben, würden wir das vermutlich auch eher mit einem milden Lächeln abnicken. Erstmal dachten auch alle, ich sei Entwicklungshelferin, weil im Norden Ghanas eigentlich keine Weißen außer eben Entwicklungshelfern rumlaufen. Aber zu meiner Überraschung wurde das sehr positiv gesehen, weil ich gesagt habe, dass ich erst einmal etwas lernen und verstehen möchte, bevor ich anfange in irgendeiner Art und Weise zu agieren. Die Leute dort - vor allem meine vielen vielen Marktmütter - interessieren aber vielmehr Fragen nach meiner Familie, wie wir in Deutschland kochen, wie wir Kinder großziehen und wann ich denn endlich heirate und ihnen (!) Enkel schenke. Aber auch während wir über den Markt oder Geld oder was auch immer mit meiner Forschung zu tun hat sprechen, ist es oft so, dass ich erst einmal über die entsprechenden Verhältnisse bei uns ausgefragt werde. Die Marktfrauen drehen den Spieß sehr gerne um und machen mich zu ihrem persönlichen Forschungsobjekt, was wirklich toll ist, weil dadurch ein Dialog entsteht. Ich lerne dadurch mehr als nur eine Perspektive kennen: Ihre Perspektiven auf uns. Und zwar bevor ich etwas erklärt habe (man nahm zum Beispiel an, dass ich eine Köchin habe) und nachdem ich etwas erklärt habe („Prima, wann kochst du auch mal für mich?“). Ihre Perspektive auf ihre eigene Lebenswelt, ihre Perspektive auf mich als Person und ich lerne, einen anderen Blickwinkel auf meine eigene Kultur zu werfen, indem ich versuche sie zu erläutern und - für mich - banale Fragen zu beantworten. Dadurch bekomme ich auch eine Idee davon, wie es für sie sein muss, wenn ich ständig fürchterlich blöde Fragen stelle (Runninggag war mal: „Welche Bedeutung hat Seife für dich?“). Außerdem macht es auch einfach Spaß. Man kann sich nicht vorstellen, über wie viele Dinge bei uns sich die Damen (nicht ganz zu unrecht) lustig machen. Wenn ich das „vor Ort“ ausklammere und es einem Laien erklären möchte, würde ich die Frage so beantworten: Ich springe auf einem Markt in Nordghana rum und mache jeden Mist mit, den die Leute vor Ort für mich bereithalten. Hauptsächlich arbeite ich für eine Hajia im Markt, in deren Familie ich lebe. Eine Hajia ist eine Frau, die nach Mekka gepilgert ist, in Ghana genießen sie sehr hohes Ansehen und sind oft einflussreiche Marktfrauen. Ich verrichte Arbeiten die ansonsten z.B. auch ihre Tochter machen würde und dadurch lerne ich, was auf dem Markt passiert. So verkaufe ich beispielsweise Seife in dem Laden meiner Gastmutter - das ist immer ein Heidenspaß für alle Beteiligten -, erledige Botengänge, verrichte aber auch Arbeiten in ihrem Haushalt. Was ich dort über das Leben der Leute herausfinde, beschreibe ich und bette es in einen wissenschaftlichen Kontext ein. Letztlich läuft es darauf hinaus, dass ich versuche eine für uns fremde Welt verständlich zu machen.

Wie gehst du dabei vor?

Naja, ich arbeite. Ich stelle keine Fragen und führe keine Interviews in diesem Sinne, das habe ich nicht einmal gemacht während der Forschung, weil mir das immer zu künstlich vorkam und im Markt auch einfach nicht funktioniert. Außerdem macht es so allen Beteiligten mehr Spaß. Stattdessen arbeite ich die ganze Zeit auf dem Markt mit und stelle Fragen nur aus dem körperlichen Kontext bzw. dem Arbeitskontext heraus. Sprich, wenn es gerade passt. Denn ich arbeite ja in einem Metier, wo die Leute ihren Lebensunterhalt verdienen, ich bin sozusagen an deren Arbeitsplatz und die haben einfach nicht ständig Zeit einer verrückten Weißen ihre Welt zu erklären. Deshalb mache ich mich lieber nützlich und habe dadurch einen guten Zugang zu den Leuten. Deswegen respektieren mich alle. Und wenn ich irgendwelche komplizierteren Fragen habe, also was weiß ich, wenn es dann auch mal um den Qu’ran oder sowas geht, dann frag ich am Abend nach, wenn wir zusammen essen oder ich am kochen bin. Es hat sich auch herausgestellt, dass ich die interessantesten Dinge nicht etwa durch explizites Fragen gelernt habe, sondern per Zufall. Die ethnographische Forschung ist eine trickreiche Kiste, denn - meiner Ansicht nach - muss man erstmal wissen, was die RICHTIGEN Fragen sind. Und woher sollte ich das um Himmels Willen wissen? Das wissen die Menschen vor Ort viel besser als ich. Ich finde, es ist viel wichtiger zu verstehen, was ihnen wichtig erscheint und mit zu expliziten Fragen lenke ich Gespräche ja in eine gewisse Richtung. Ich habe immer versucht das zu vermeiden und stattdessen einfach zuzuhören, mitzuarbeiten und im Zweifel auch mal eine Woche nur über Gott und die Welt zu reden, weil a) auch das interessante Fakten sein können und Spaß macht, b) ich genug Zeit hatte und habe nachzufragen, wenn es nötig ist und c) weil ich dort schon lange nicht mehr wirklich eine Fremde bin, sondern ein (sehr weißes) Familienmitglied. Ich bin dort gefühlsmäßig nicht auf Forschung, sondern lebe dort.
Ansonsten war ich in Accra (das ist die Hauptstadt) noch in der Börse und bei der Weltbank, um mehr über das globalere Wirtschaften Ghanas zu erfahren. Dort war es mit „über Gott und die Welt reden“ zugegebenermaßen nicht so weit her, aber auch dort hat es viel Spaß gemacht. Die Leute sind sau nett gewesen und ich habe viel gelernt, auch wenn es ein ziemlicher Kulturschock war, vom Markt in Tamale auf die Börse in Accra zu kommen. Zurück in Deutschland (nach dem nächsten fetten Kulturschock) habe ganz viele VWL-Vorlesungen besucht damit ich einen Überblick über ökonomische Theorien habe und etwas über unser eigenes Wirtschaftssystem lerne. Und ich lese jede Menge theoretische und ethnographische Literatur und versuche die dann eben mit meinen Feldforschungsergebnissen zusammen zu führen.  

Gab es Momente der Überraschung während deiner Forschung?

Täglich! Deshalb feiere ich die Ethnologie so sehr! Aber, ich mache die Forschung dort schon seit fast 5 Jahren, weil ich auch meine Magisterarbeit über den Markt geschrieben habe. Das heißt, dass mich dort alle bereits gut kennen und ich mich dort inzwischen einfach wie Zuhause fühle. So totale Sinnüberflutung, Überforderung und dieses „Aaargh! Zu viel neue Informationen für meinen armen Schädel! - Gefühl“ habe ich nur noch selten. Aber äußerst positiv und doch auch überraschend, ist immer wieder wie sich alle freuen, wenn sie mich sehen und wie schön es ist dahin zu kommen. Es ist halt einfach mein zweites Zuhause. Es ist keine positive Überraschung in dem Sinne, aber es ist der schönste Aspekt der Forschung. Und sonst ist es so, dass ich doch jeden Tag von etwas dort überrascht werde, in dem Sinne, dass ich jeden Tag etwas Neues lerne. Das ist doch das Coole an der Ethnologie. Man lernt nie aus im Feld und wird jeden Tag von neuen bzw. fremden Gegebenheiten überrascht.

Welchen Einfluss auf die heutige Forschung erhoffst du dir von deinen Forschungsergebnissen?

(Lacht.) Also zum einen ist in Tamale oder in Nordghana die Ethnologie nicht besonders gut vertreten. Gott sei Dank. Also sprich, man könnte sagen, ich fülle eine ethnographische Lücke. Aber ganz ehrlich, es interessiert kein Schwein ob du eine ethnographische Lücke füllst oder nicht. Das andere ist: Es gibt nur ganz wenige Markt-Ethnologen in Afrika. Obwohl man notwendigerweise durch die Dinger durch kommt, wenn man in Afrika unterwegs ist. Aber es macht halt keiner, weil sie - so vermute ich - vielen zu chaotisch sind. Ich glaube ich bin seit einigen Jahren die Erste, die wieder eine Monographie über Märkte schreibt und die haben sich natürlich verändert. Ich glaube, das ist schon wichtig für die wirtschaftliche Forschung auf dem afrikanischen Kontinent. Und das Nächste ist der wirtschaftliche Teil meiner Arbeit, der sich mit Market Money beschäftigt. Der kann keinen Lösungsansatz, aber eine Idee bzw. weiterführende Gedanken dazu bieten, wie man z.B. mit Wirtschaftskrisen umgehen kann. Man kann das auch auf unser System beziehen.

Wo siehst du dich in 10 Jahren?

(Lacht.) Ich hab keine Ahnung. Also es wäre schön, wenn ich weiter an der Uni arbeiten könnte. Ich mag die Wissenschaft, auch wenn sie mir manchmal tierisch auf den Keks geht und anstrengend ist, aber ich unterrichte sehr gerne, mag den akademischen Diskurs und auch das Schreiben. Eine Mitarbeiterstelle und irgendwann mal eine Professur wäre mein Traum, aber wer weiß das schon. Ich will weiter Ethnologin sein, das weiß ich mit Sicherheit. Aber „ich habe keine Ahnung“ ist das ehrliche Statement. Weil man das in unserem Fach einfach nicht genau planen kann. Wenn die liebe Wissenschaft weiterhin so miese berufliche Chancen bietet - Familienplanung kann man beispielsweise komplett vergessen bei den kurzen Verträgen -, verkaufe ich meine Seele vielleicht doch an die freie Wirtschaft, sofern ich dabei Ethnologin bleiben kann.

GERALDINE SCHMITZ ist seit 2013 Doktorandin am Institut für Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main mit regionalem Schwerpunkt Westafrika. Sie studierte historische Ethnologie und Religionsphilosophie und schloss ihr Studium 2013 mit der Magisterarbeit „Der Markt als Lebenswelt – Eine ethnographische Studie über den Tamale Central Market“ ab, die auf zwei Feldforschungen in Nordghana beruht. Schwerpunktmäßig arbeitet sie seit fünf Jahren über den Markt in Tamale, den sie insbesondere im Hinblick auf Handelsstrategien, wirtschaftliche Dynamiken und den Umgang mit Geld untersucht. Der Fokus ihrer Dissertation im Graduiertenkolleg „Wert und Äquivalent“ liegt bei den lokalen Akteuren und deren Perspektive sowie globalen Kontexten (Finanzmarkt). Ihre Interessen- und Forschungsschwerpunkte sind Wirtschaftsethnologie, Phänomenologie, politische Ethnologie, Geld, Islam in Westafrika und Wirtschaftssysteme. Außerdem beschäftigt sich Schmitz eingehend mit ethnographischen Methoden und ethnologischen Repräsentationsdebatten.